Bericht über den Psychoanalytischen Salon Hamburg am 27.11.2023 zum Thema „Dummheit“

von DPG

(Moderation: Torsten Michels)

Zu Gast war Frau Prim. Dr. Heidi Kastner, Leiterin der Klinik für Psychiatrie mit forensischem Schwerpunkt des Kepler Universitätsklinikums Linz. Ihr Buch zum Thema „Dummheit“, das jetzt schon in der 13. Auflage erschienen ist, und in dem sie sehr gewandt, präzise und kurzweilig das Phänomen Dummheit beschreibt, war auslösend für unsere Beschäftigung mit dem Thema. Dummheit ist ein vielfältig gebrauchtes Wort und kein scharf abgegrenzter wissenschaftlicher Begriff. Alle scheinen zu wissen was gemeint ist, aber es gibt keine genaue Definition.

Frau Kastner interessierte sich für die „ganz normale unreflektierte, selbstermächtigende, denkfaule Alltagsdummheit, die Dinge tut, die ungut sind“. Sie versuchte beispielreich, den Begriff ein- und abzugrenzen. Dabei setzte sie sich für die Aufrichtigkeit ein, Dummheit auch als solche zu benennen, und nutzlose Diskussionen mit Menschen, die nicht bereit sind, vom Anderen ein Argument auch nur zu bedenken, zu beenden. Mit ihrem forensisch geschulten Blick und ihrer klaren Sprache machte sie verstehbar, dass nicht alles pathologisiert werden muss, was zur Varianz menschlichen Verhaltens gehört, und dass es andererseits eine klare Haltung, einen sicheren Realitätsbezug und Selbstreflexion braucht. Meinung mit Fakten zu verwechseln, führt eher zu dummen Situationen. Das stellte sie mit Beispielen von Verschwörungsdenkern oder Aussagen bestimmter Politiker gut verstehbar dar und förderte damit die spätere Diskussion mit dem Publikum. Differenziert wurde auch die Funktion von Emotionen erläutert, die sowohl an klugen als auch an dummen Entscheidungen beteiligt sein können.

Und: Dummheit ist und bleibt eine Frage der Perspektive.

Das kleine Buch ist eine unterhaltsame und kluge Beschreibung der Thematik.

Torsten Maul stellte (illustriert mit zwei kleinen Fallskizzen) dar, warum Psychoanalytiker sich nicht über Dummheit beklagen sondern nach Motiven und Zusammenhängen fragen.

Ausgehend von den Überlegungen zur Pseudodebilität aus den 1930er Jahren skizzierte er kurz die Lernentwicklung. Lernende Kinder identifizieren sich mit ihren Eltern und Lehrer:innen, und halten für wahr, was diese ihnen präsentieren. So gibt es förderliche - aber eben auch hinderliche Bedingungen für das Lernen (und die Entwicklung des Denkens). Wer z.B. in einer Umgebung von Rassismus und Fanatismus aufwächst, wird dies erst einmal für normal halten und nur erschwert innere Möglichkeiten für Neugier und Toleranz entwickeln können. Dummheit kann man also lernen!

Auch Erwachsenen befinden sich nicht immer in hinreichend intakten/reifen seelischen Zuständen. Manche sind innerlich so verunsichert und angespannt, dass sie sich Neuem nicht interessiert zuwenden können, vielleicht weil die Welt nicht so ist, wie sie wünschen, oder weil sie es überhaupt nicht gut aushalten können, dass es Andersartiges gibt. Die wollen dann das Andere (von dem sie lernen könnten) lieber beseitigen. Das heisst in unserem Kontext: lieber dumm bleiben und aggressiv werden, als sich mit Neuem auseinanderzusetzen, die Verunsicherung auszuhalten, und das anfänglich Verunsichernde im Laufe des Lernens zu integrieren. 

Aber auch hier fragen wir aus analytischer Perspektive, welchen Sinn  das haben könnte. Eine Möglichkeit ist die Aufrechterhaltung eines ansonsten fragilen inneren Gleichgewichts. Unser konflikthaftes Innenleben führt zu Spannungen, die auch in dumm scheinende Situationen münden können: Streitigkeiten aufgrund verzerrter Wahrnehmung/Erwartungen; regressive Veränderung bei Eintritt in eine Masse; Dummheitsvorwurf als Angriff oder zur Belustigung; defensive Reaktion aus Schamangst; kurzfristige Triebbefriedigung ist häufig leichter als um nachhaltige Lösungen zu ringen; neurotische Symptombildung.

Der Sinn neurotischer Symptombildung, die dumm und klug zugleich erscheint, wurde eingehender erläutert.

Nach einem abschließenden kurzen Beispiel über Widerstandserleben in der Therapie endete der Beitrag mit der Feststellung, dass wir alle in Bezug auf uns selbst ziemlich unwissend sind, weil uns ein Großteil unseres seelischen Funktionierens unbewusst ist. Kümmern muss man sich, wenn es symptomhafte Schwierigkeiten gibt. Ein Versprechen der Psychoanalyse ist, die eigenen Hemmnisse besser kennenlernen zu können und so befähigt zu werden, sich „weniger dumm“ zu verhalten.

Danach gab es ein 45-minütiges anregendes und fröhliches Gespräch mit den Gästen.

Weil die Nachfrage größer war als der Raum Plätze bot, ist eine Wiederholungsveranstaltung in Planung, die wir vermutlich im Februar realisieren können. Frau Dr. Kastner hat dafür zugesagt.

In den eMail-Verteiler für die Ankündigung der Veranstaltungen können Sie sich unter www.torstenmaul.art eintragen.

Allgemein zur Veranstaltungsreihe:

Der Salon, bei dem Psychoanalytiker, geladene Gäste und das Publikum zu aktuellen Themen der Zeit ins Gespräch kommen, findet seit November 2015 in loser Folge statt.

Der Rahmen ist mit der Theaterbar Nachtasyl so gewählt, dass nicht nur das Fachpublikum angesprochen ist, sondern auch am Thema Interessierte. Das Publikum (ca. 130 Leute) ist dementsprechend heterogen, viele junge Leute, aber auch Kollegen und andere. 

Uns ist wichtig, dass wir nicht primär Psychoanalyse erklären, sondern aus psychoanalytischer Perspektive Überlegungen zu aktuellen Themen vorstellen. Dabei achten wir auf Verständlichkeit und Unterhaltsamkeit unserer Beiträge, damit sich das Publikum danach auch traut, Gedanken mitzuteilen. 

Mitursächlich für den erstaunlichen Erfolg der Veranstaltungsreihe ist auch, dass wir einen Gast einladen, der/die sich aus der Perspektive einer anderen Profession zum Thema äußert. Unsere Statements sollen je ca. 20 Minuten dauern, danach sprechen wir  ca. 45 Min. mit dem Publikum. Das geht natürlich unterschiedlich gut, aber das Publikum ist immer freundlich und meistens auch sehr klug. Die Abende sind durchaus kurzweilig, fröhlich und anregend.

Je nach Thema der Veranstaltung beginnen wir jeweils mit LiveMusik oder singen mit dem Publikum.

Die Veranstaltungen waren alle übervoll und wurden, weil wir immer Interessenten abweisen mussten, in der Regel wiederholt. 

Themen und Gäste waren bisher:

"Warum Krieg 
Gast: Hannes Heer (Historiker)

„Radikalisierung 
Gäste: Kurt Edler (Dt. Ges. f. Demokratiepädagogik), Philip Al-kazan (Lehrbeauftragter)

„Rache 
Gast: Ulrich Hentschel (Theologe)

„Befriedigendes Leben?! Erkundungen aus den Perspektiven dreier Generationen
Gäste: Theresa Grziwok (Studentin), Wulf-Volker Lindner (Theologe/Psychoanalytiker)

„Neue/Soziale Medien“ Was macht digitale Kommunikation mit der Psyche? 
Gast: Matthias Ernst (Politologe)

"Neid, die aufrichtigste Form der Anerkennung
Gäste: Prof. Dr. Sighard Neckel (Soziologe), Eckehard Pioch (Psychoanalytiker)

„LügeDie ganze Wahrheit ist, gelogen wird immer! 
Gast Prof. Dr. Simone Dietz (Philosophin)

„Was Sie schon immer über Psychoanalyse wissen wollten, aber nie zu fragen wagten 
Gast: Klaus Grabska (Psychoanalytiker)

"Massenpsychologie 
Gast: Prof. Dr. Simone Dietz (Philosophin)

„VERTRAUEN. ODER?“
Gast: Prof. Dr. Simone Dietz (Philosophin)

„Dummheit“
Gast: Prim. Dr. Heidi Kastner (forensische Psychiaterin)

Torsten Maul
HH 01.12.2023

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