Die unvollendete kopernikanische Revolution – Psychoanalyse und das mehr-als-menschliche Andere
von DPG
Esther Hutfless, die an der Schnittstelle zwischen Psychoanalyse und Philosophie bzw. Kulturwissenschaften arbeitet, ist Philosoph:in, freie Wissenschaftler:in und Psychoanalytiker:in. Außerdem ist sie Mitglied des Wiener Arbeitskreises für Psychoanalyse und der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung. Sie lehrt an der Universität Wien, der Sigmund Freud Privatuniversität Linz und der Wiener Psychoanalytischen Akademie. Ihre Forschungsfelder beinhalten: Poststrukturalismus, Dekonstruktion, Psychoanalyse, Queer Theory und psychoanalytische Gesellschaftstheorien. Aktuell forscht sie vor allem zu nicht-normativen Ansätzen in der Psychoanalyse und zu Psychoanalyse und Intersektionalität.
Dabei richtet sich ihr Interesse besonders auf das Denken von den Rändern her, auf die Auseinandersetzung mit dem, was aus dem Bewusstsein oder aus einem Diskurs ausgeschlossen bleibt. Sie folgt Freud, Derrida und den poststrukturalistischen Ansätzen in der Philosophie darin, dass es die Ränder sind, das Ausgeschlossene und Verdrängte, die das vermeintliche Zentrum oder das Subjekt als solches erst hervorbringen. Freud verglich bekanntlich die psychoanalytische Entdeckung des Unbewussten mit der kopernikanischen Wende. Er sprach von einer Reihe von Kränkungen des menschlichen Narzissmus: von der uns durch Kopernikus zugemuteten Erkenntnis, dass die Erde nicht Zentrum des Universums ist, der Erkenntnis Darwins, dass wir alle von Tieren abstammen und von der Kränkung durch die Psychoanalyse, dass der Mensch nicht 'Herr im eigenen Hause' ist, in dem sich neben dem bewussten Ich auch das Unbewusste befindet. An dieser Stelle geht Hutfless einen Schritt weiter: die nächste Kränkung sieht sie in der Erkenntnis, dass der Mensch doch nicht an der Spitze der Evolution steht und die Menschheit eine unter vielen natürlichen Spezies darstellt. Die bedrohlichen Szenarien, mit denen wir durch die Klimakrise sowie ökologische und andere Katastrophen konfrontiert sind, fordern uns aktuell heraus, unsere Beziehungen zur Welt und gerade auch zum nicht-menschlichen oder mehr-als menschlichen Anderen zu reflektieren. Mit diesem ‚doppelten‘ Begriff versucht sie, all das zu erfassen, das über das Menschliche hinausgeht, um nicht einer neuen Spaltung zwischen dem Menschlichen und dem Nicht-Menschlichen zu verfallen.
Esther Hutfless wendet die in dieser Auseinandersetzung aufkommenden Fragen auch auf die Psychoanalyse selbst an und fragte in ihrem Vortrag danach, ob der Fokus auf das Nicht-Menschliche auf das Ende der Psychoanalyse hinausläuft, wie man erwarten könnte. Oder: was es für die Psychoanalyse bedeuten könnte, über das Menschliche hinaus, das Aufeinander-Bezogen-Sein zwischen dem Menschlichen und dem Nicht-menschlichen zu erforschen? Mit dem Begriff der kopernikanischen Revolution bezog sie sich im Vortrag auf Jean Laplanche. Er erklärte, die kopernikanische Revolution der Psychoanalyse sei insofern unvollendet, als Freud hinter seine ursprünglichen Erkenntnisse zurückgefallen sei und es bei ihm scheine, als entwickle sich der Mensch mit seinem Unbewussten quasi aus sich selbst heraus. Hier führte Laplanche den «Primat des Anderen» wieder ein: da das Unbewusste sich ihm zufolge durch den Anderen und dessen rätselhafte Botschaften konstituiere, trage es die Alterität immer schon in sich. Bei Laplanche ist es der Einfluss des menschlichen Anderen, dessen Botschaften im Unbewussten implantiert werden.
Esther Hutfless ging in ihrem Vortrag dem nicht- oder mehr-als-menschlichen Anderen zunächst aus einer psychoanalytischen Perspektive nach. Ihre Spurensuche führte sie über das psychoanalytische Behandlungszimmer zu Freuds Auseinandersetzung mit einer vergangenen Naturkatastrophe – der letzten Eiszeit – und ihren traumatisierenden Auswirkungen auf die Entwicklung der menschlichen Psyche. In einem langen verschollenen Text unter dem Titel ‚Übersicht der Übertragungsneurosen‘ entwarf er eine von ihm selbst so benannte „phylogenetische Fantasie“. (Freud, 1915) Darin sieht er die auf die Menschheit ‚in grauer Vorzeit‘ hereinbrechende Eiszeit als Trauma, das alle weiteren Entwicklungen der Menschen geprägt und im Unbewussten eine Spur der Angst hinterlassen habe. Hier findet Hutfless einen Anknüpfungspunkt für das Verhältnis der Menschen zum nicht-menschlichen Anderen.
Von Freud führt die Spur dann zum hierzulande aktuell wenig beachteten Psychoanalytiker Harold Searles. Der 2015 verstorbene Searles war auf die psychoanalytische Behandlung der Schizophrenie spezialisiert. Über die Schizophrenie und ihren spezifischen Bezug zur äußeren Welt gelangte er zu einer allgemeinen psychoanalytischen Auseinandersetzung mit unserer Umwelt und ökologischen Fragen. Hutfless sieht Searles‘ Konzeptionalisierung der Beziehung zu anderen Lebewesen als geeignet dafür an, Laplanches‘ triebtheoretische Überlegungen und dessen Begriff der Alterität zum nicht-menschlichen Anderen hin zu öffnen. Dieses Andere, das Hutfless im psychoanalytischen Diskurs als Randphänomen beschreibt, das den Rand eines vermeintlich menschlichen Zentrums bildet, das es – vergleichbar mit der Kopernikanischen Revolution – zu dekonstruieren gilt, führt sie schließlich zu einem anderen Randbereich. Jenem Rand des Lebens, der der Tod ist, den wir mit allen Lebewesen teilen.
Bei der Auseinandersetzung mit dem mehr-als-menschlichen Anderen bewegen wir uns Hutfless zufolge in einem Terrain komplexer epistemologischer Fragen: die äußere Realität und Umwelt sei uns zwar durch unsere Wahrnehmung gegeben, aber zugleich auch immer durch unsere innere Realität verstellt. Sie fragt danach, wie wir uns dem Anderen jenseits von bloßen Projektionen, Spaltungen und menschlichen Phantasien nähern können. Es in seiner Andersartigkeit bestehen lassen? Und trotzdem Mit-Sein?
Am Ende ihres Vortrags stellt sie eine Verbindung von Searles‘ Überlegungen mit Derrida her: es sei die erste Trennung vom Nicht-Menschlichen, die dieses zugleich für immer in uns einschreibt. In diesem Sinne heiße Leben lernen, auch zu lernen „in Verschränkung, in Verwandtschaft und in Bezogenheit zum nicht- und mehr-als- menschlichen Anderen zu leben und die zerstörerischen Oppositionen unseres westlichen Denkens in Frage zu stellen.“ Es gelte, ein Mit-Sein zu entwickeln, das als ein Geteiltes auftauchen kann. Die psychoanalytische Konzeption der Alterität in dem, was wir das Eigene nennen, ermögliche es ihr zufolge, das nicht-menschliche Andere aus psychoanalytischer Perspektive in den Blick zu nehmen. So verstanden laufe die Erforschung dieser Fragen nicht auf den Tod, sondern das Weiterbestehen der Psychoanalyse hinaus.
Der große Bogen, den Hutfless mit ihrem Vortrag von der Menschheitsentwicklung und Freuds phylogenetischer Phantasie zu aktuellen Szenarien der Klimakrise und anderer Bedrohungen mit ihrem Vortrag geschlagen hat, hat nach meinem Eindruck das Publikum im ICI sehr in Bann gezogen. Die Fragen und Kommentare in der Diskussion richteten sich sowohl auf die Umsetzung ihrer Überlegungen in unseren aktuellen gesellschaftlichen und individuellen Lebenssituationen als auch auf eine philosophische Einordung der aufgeworfenen Fragen und Zusammenhänge. Meines Erachtens wurde im Gespräch mit den Teilnehmenden deutlich, dass es Hutfless gelungen ist, unserer psychoanalytischen Theorie eine weitere Perspektive zu eröffnen: das Nachdenken über unsere Beziehung zu anderen Lebewesen und zu unserer Umwelt, das jenseits von Spaltungen und Projektionen ein Mit-Sein einschließt.
Bei Interesse steht Ihnen der Vortrag auch auf der Website des ICI als Video zur Verfügung: ici-berlin.org
Esther Hutfless wird auch mit einem Vortrag auf der DPG-Jahrestagung vertreten sein.
Monika Englisch, Berlin