DPG-Jahrestagung, 08. - 11.06.2023 in Weimar
von DPG
Inhaltlich widmeten sich die Referent:innen Dagmar Herzog, Paula-Irene Villa Braslavsky, Esther Hutfless, Avgi Saketopoulou, Ulrike Kadi, Monika Gsell, Almut Rudolf-Petersen, Falk Stakelbeck, Eckehard Pioch und die Filmemacherin Monika Treut diesem komplexen Thema. Und dies aus der jeweiligen psychoanalytischen, klinischen, kulturellen und/oder sexualwissenschaftlichen Position heraus. Uns wurde ein imposanter Blick auf die Wissenschaftsgeschichte der Sexualität im Vortrag der diesjährigen Sigmund-Freud-Kulturpreisträgerin Dagmar Herzog ermöglicht, eine soziologische Brille, um auf die Gestaltbarkeit von Geschlecht schärfer zu blicken, aufgesetzt (Villa Braslavsky) und wir wurden philosophisch-diskursanalytisch mit dem »Käfig der Geschlechtlichkeit« in Bewegung versetzt (Hutfless). Mit der herausfordernden Übersetzungsarbeit jener rätselhaften sexualen Botschaften und gleichzeitig der Begeisterung im Sexualen mit welchem Avgi Saketopoulou uns verzauberte bleibt sicherlich in Erinnerung. Weiter wurden wir mit den »Denkaufgaben über das Sexuelle« (Kadi), welche uns Psychoanalytiker:innnen schon immer »verwirrt« konfrontiert und unser Blick wurde auf unbewusste Phantasien im Sexuellen am Beispiel eines bestimmten homosexuellen Narrativs (Gsell) gelenkt. Die Tagung begann mit dem Unbehagen der Psychoanalytiker:innen mit den Möglichkeiten und schwindenden Gewissheiten (Pioch) und endete mit der Frage Gibt es Homosexualität? (Rudolf Petersen/Stakelbeck). Diese (binäre) Klammer der Tagung zeigt die Ränder und verweist auf die innere und äußere Spannung mit der Sexualität und dem Geschlecht: Unbehagen und Fragen, Fragen des Unbehagens, unbehagende Fragen, fragendes Unbehagen.
Die binäre Klammer begrenzt das Sexuelle (der »Käfig der Geschlechtlichkeit«), inwiefern jedoch der Abstand innerhalb der Klammer innerlich und äußerlich sich zeigen darf, bleibt ein Spannungsfeld. Auch für die psychoanalytische Theorie und Praxis. Dies hat die Tagung gezeigt.
Die vielen professionellen Vorträge und engagierten Beiträge des Nachmittagsprogramms bezeugen die Vielfalt des Themas und der Vortrag Zur heterosexuellen Männlichkeit jenseits der Binaritäten – eine Sexualforschung des Benedetti Preisträgers Sebastian Thrul zeigte sowohl die Notwendigkeit des Diskurses als auch die vitale Kreativität mit dem Sexuellen und dem Geschlecht zu denken und beides miteinander zu verbinden.
Die Atmosphäre der Tagung war von einer Stimmung des – wie Avgi Saketopoulou diesen Zustand benennt- »erotischen Erstaunen« getragen: aufwühlende Vorträge zum Geschlecht und zur Sexualität, bewegende Momente am Festabend sowie viele wunderbare Begegnungen außerhalb und innerhalb des Rahmens der Tagung. Zu erwähnen ist unbedingt die öffentliche Filmvorstellung des Dokumentarfilm Gendernation (2021) und dem anschließenden Question & Answer mit der Filmemacherin Monika Treut. Und: die musikalische Einlage von Erna P zum Festabend war »grandios« (so eine Rückmeldung einer teilnehmenden Person).
Eine weitere berührende und motivierende Rückmeldung zur Tagung war »Neugier überwog die Angst vor Auflösung vertrauter Sichtweisen«. Dies scheint gelungen zu sein.
Die gut besuchte Tagung sowohl von Fachpublikum als auch von interessierten anderen Personen war ermutigend, bewegend und für manche ein längst überfälliges Zeichen von Anerkennung sexueller Identitäten Jenseits der Binarität innerhalb der Fachgesellschaft.
Dr. Bernd Heimerl, Juni 2023
Tagungsbericht in der Frankfurter Rundschau von Klaus Walter, Frankfurt, vom 16.6.2023