Eindrücke während der kasuistisch-technischen Konferenz der DPG in Brüssel 15.–17.11.24
von DPG
An einem kalten Freitagnachmittag fand sich eine kleine Gruppe von Teilnehmer:innen der ktK vorab zu einer gemeinsamen Stadtführung im Hotel ein. Geführt wurden wir von einem wissensbewanderten jungen Mann, der sich uns zunächst damit vorstellte, dass er für die Liebe vor über 10 Jahren nach Brüssel gezogen sei. Auf dem Weg vom Hotel über den königlichen großen Park in die Innenstadt gab er viel an historischem und architektonischem Wissen weiter und zeigte uns in einem kurz bemessenen Zeitfenster viele der Sehenswürdigkeiten Brüssels. Seine Begeisterung war so einnehmend, dass sie uns Zeit und Kälte vergessen ließ. Wir kamen nur sehr knapp für den Beginn des offiziellen Teils wieder im Hotel an.
Zur Begrüßung fanden wir uns im EPF-Haus um die Ecke ein und konnten mit einem exquisiten Fingerfood-Imbiss die notwendige orale Basis für die folgende geistige Tätigkeit schaffen. Nach Zusammenkunft im großen Stuhlkreis von ca. 30 Teilnehmer:innen – eine angenehme nicht zu große und nicht zu kleine Runde - fand die offizielle Begrüßung und ein kurzer Rückblick auf die vergangenen Konferenzen statt, die über 15 Jahre von Gisela Klinckwort geleitet wurde. Wir gedachten ihrer, da sie im März 2024 überraschend verstorben war.
Die gemeinsame Reflexion des Freud-Aufsatzes „Konstruktionen in der Analyse“ von 1937 wurde durch einen Vortrag von Lutz Garrels eingeleitet. Darin ging es u.a.um Freuds Verteidigung der Psychoanalyse gegen den impliziten Vorwurf, der Psychoanalytiker würde die Deutungshoheit gegenüber seinem Patienten für sich beanspruchen, da jede Verneinung des Patienten als Bestätigung seiner Verdrängung interpretiert werden könne. Viele aus der Runde beteiligten sich an den im Text aufgeworfenen Fragen um Deutungen und Widerstand, Konstruktionen und Rekonstruktionen und den Ausblick auf den Wahn. Die Diskussion war rege und setzte Freuds Gedanken in einen sowohl theoretischen als auch klinischen neuen Bezug.
Über den Samstag und den Sonntagvormittag erfolgten drei Fallvorstellungen, begleitet durch die beiden Supervisor:innen Serge Frisch (Luxemburg) und Eva Schmid-Gloor (Schweiz). Wie immer wurde im Fischbowl-Setting eines flexiblen Innen- und Außenkreises gearbeitet: diskutiert wird nur im Innenkreis, wer diskutieren will, geht hinein, wenn ein Platz frei ist.
Die erste Kasuistik begann die Analytikerin mit den sehr einladenden Worten, sie habe sich für diesen Patienten entschieden, weil es ihm sicherlich guttun würde, wenn sich so viele Menschen mit ihm beschäftigten. Der innere Kreis der aktiven Teilnehmer:innen schien mir rasch gefüllt und die Plätze wurden zunächst auch lange besetzt gehalten. Ich war ein wenig überrascht über die schnellen vielfältigen Einfälle und die Tiefe der Deutungen. Die Beiträge wirkten lebhaft, individuell und kontrovers.
Die zweite Kasuistik wurde vom Analytiker eingeführt mit der Aussage, eigentlich habe er jemand anderen vorstellen wollen und habe sich im letzten Moment umentschieden. „Aha, was mag das bedeuten?“, dachte ich. Der innere Kreis füllte sich langsamer und es gab immer wieder genug freie Plätze. Ich hatte den Eindruck, dass unsere Einfälle mehr zu einem gemeinsamen gedanklichen Gruppenprozess zusammenflossen als in der ersten Fallvorstellung. Wir stellten mehr Fragen und folgten einander. Über ein behutsames assoziatives Annähern gelangten wir - über die Rolle der Stille in dieser Behandlung - zum tieferen Verständnis der Auswirkungen eines ersten Lebensabschnitts im Brutkasten bei Frühgeburten.
Am Samstagabend gingen wir zum privaten Teil der ktK über und besuchten in großer Gruppe das „Le Mess“ zum gemeinsamen Abendessen. Die Speisen waren köstlich, aber die Portionen für meinen Geschmack etwas klein. Die angenehme gesellige Atmosphäre und die interessanten offenen Gespräche machten dies aber wieder wett.
Die dritte Kasuistik am Sonntagvormittag gewährte uns Einblicke in eine sehr ruhige, wenig aktive Haltung des Analytikers mit seiner eindrücklichen Fähigkeit, den von seiner Patientin eingeleiteten Konfliktfeldern minimal reaktiv zu begegnen nach dem Motto: was wichtig ist, kommt sowieso wieder. Die Rolle der Idealisierung des Vaters und die Bedeutung finanzieller Aspekte spielten eine zentrale Rolle in unseren Reflexionen. Der innere Kreis war gut besucht und trotz kontroverser Betrachtungen hatte ich den Eindruck, dass die Beiträge aus der Runde etwas zurückhaltender wurden.
In der Abschlussrunde gab es viel Positives, aber auch ein wenig kritisches Feedback für die Veranstalter. Die Frage nach der abnehmenden Zahl der Anmeldungen in diesem Jahr beschäftigte uns, es wurde aber auch vielfältig der Wunsch artikuliert, diese besondere Möglichkeit des gemeinsamen psychoanalytischen Arbeitens weiterzuführen. Mit gebührlichem Dank an alle Beteiligten wurde die ktK beendet.
Dipl.-Psych. Kizil Tekdemir, Saarbrücken, 15.12.2024