Gegen eine Gewalt-Politik des Hassens und Vernichtens
von DPG
Gegen eine Gewalt-Politik des Hassens und Vernichtens -
Stellungnahme der DPG zum aktuellen Zivilisationsbruch gegenüber der Ukraine
Die Psychoanalyse bewahrt in sich eine Utopie von Veränderung des Menschen jenseits von Gewalt, Nötigung und Vernichtung vermittels des Durcharbeitens der unbewussten Verstrickungen der Menschen, in denen sich destruktive und lebensfeindliche gegen lebenserhaltene und zivilisationsfördernde Kräfte durchzusetzen drohen. Für diese dem Leben zugewandten, die Aggression einbindenden Veränderungen bedarf es eines Möglichkeitsraums von Freiheit und Austausch, Respekt und Anerkennung. In diesem Sinne geht Psychoanalyse über die psychotherapeutische Krankenbehandlung hinaus. Sie ist Teil eines zivilisatorischen Projekts und sie kann sich als solche am besten in freiheitlichen Demokratien verwirklichen.
Daher kann Psychoanalyse nicht schweigen, wenn unsere zivilisatorisch bedeutsame Friedens-Ordnung in Europa, die - gegründet auf den Lehren des II. Weltkriegs und gegen die Wiederholung eines Vernichtungskriegs gerichtet, wie ihn das nationalsozialistische Deutschland menschenverachtend betrieben hatte - auf dem Verzicht von Angriffskrieg und militärischer Intervention zur Durchsetzung nationalistischer Interessen beruht, so schwer erschüttert wird, wie es jetzt durch die militärische Invasion und die weitergehende Androhung atomarer Gewalt durch die Russische Föderation und dessen Präsidenten Wladimir Putin geschehen ist.
Dagegen protestieren wir mit all unserer Kraft, fordern die Einstellung aller Kampfhandlungen und die Wiederaufnahme von Gesprächen über die Zukunft der Ukraine in einer Haltung, die die Selbstständigkeit der Ukraine und deren fundamentales Recht auf eine eigene gesellschaftliche und staatliche Entwicklung respektiert und anerkennt.
- Wieviel Hass auf die Entwicklung hin zu Selbständigkeit, Freiheit und Demokratie muss es geben, dass es zu solch einem Zivilisationsbruch kommt?
- Wieviel archaische Regression ist im Spiel, dass wir in Putin - zusammen mit Wladimir Sorokin, dem bedeutendsten zeitgenössischen russischen Schriftsteller - auch eine Wiederkehr von Iwan dem Schrecklichen in modernem Gewand und mit atomarem Drohpotential sehen müssen, der die Okkupation des eigenen Landes in der Ukraine grausam zu externalisieren und auszuweiten versucht?
- Wieviel destruktiv-narzisstische Energie ist am Wirken, die letztlich einer Logik des Todestriebes folgt, dass "das Lebewesen ... sozusagen sein eigenes Leben dadurch (bewahrt), dass es fremdes zerstört" (Freud 1932)?
- Wieviel Angst, gegenüber einem freiheitlichen demokratischen Ideal nicht bestehen zu können, und wieviel Selbstunsicherheit und Misstrauen in das eigene Entwicklungspotential liegt dem Rückzug auf eine omnipotente Allmacht-Position mit absoluter Vernichtungsdrohung dem Anderen gegenüber im Putinismus zugrunde?
- Wieviel paranoide Wahrheitsverdrehung ist nötig, um dem Anderen das Böse zuschieben zu können, das man selbst auf vernichtende Weise praktiziert und mit einem ideologischen Wahngebilde, ein metaphysisches Russisches Reich wieder auferstehen zu lassen, zu legitimieren versucht?
Unsere Solidarität gilt den Menschen in der Ukraine und in Russland, die sich diesem Wahnsinn entgegenstellen. Ganz besonders sorgen wir uns um unsere psychoanalytischen Kolleginnen und Kollegen in der Ukraine. Viele Kolleginnen und Kollegen in Europa versuchen, den Kontakt zu ihnen aufrecht zu erhalten und sie zu unterstützen. Es sind die menschlichen Beziehungen wie die Humanität unter den Menschen, die weiterhelfen. In seinem berühmten Briefwechsel mit Albert Einstein zur Frage "Warum Krieg?" betonte Freud 1932, dass alles, was Gefühlsbindungen unter den Menschen herstellt, und alles, was die Kulturentwicklung fördert, dem Krieg und dem Vernichten von Menschen entgegenwirkt.
Wir Psychoanalytikerinnen und Psychoanalytiker der DPG sehen uns in dieser Freudschen Tradition, sich gegen Krieg, Gewalt und Vernichten zu empören und zu engagieren, "weil jeder Mensch ein Recht auf sein eigenes Leben hat, weil der Krieg hoffnungsvolle Menschenleben vernichtet, den einzelnen Menschen in Lagen bringt, die ihn entwürdigen, ihn zwingt, andere zu morden, was er nicht will, kostbare materielle Werte, Ergebnis von Menschenarbeit, zerstört, u. a. mehr" (Freud 1932).
Wir können den Angegriffenen und von Vernichtung Bedrohten im Rahmen unserer Möglichkeiten helfen und helfen damit zugleich auch uns, denn niemand kann sicher und mit Grundvertrauen in einer Welt leben, lieben, arbeiten und sich entwickeln, die von einer Gewalt-Politik des Hassens und Vernichtens bedroht ist. Diese Bedrohung hat Europa mit dem 24. Februar 2022 erreicht und existentiell erschüttert. Sie darf nicht verleugnet werden. Wie sich vernünftig dagegen wehren und wie das unermessliche menschliche Leid bewältigen, bleibt eine Herausforderung für uns alle.
Klaus Grabska
Vorsitzender der Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft
Hamburg, 28. Februar 2022
Überlegungen zur „Stellungnahme der DPG zum aktuellen Zivilisationsbruch gegenüber der Ukraine“
Eine Stellungnahme in einer Kriegssituation zu schreiben ist eine Herausforderung. Angesichts einer so existenziellen Bedrohung können Polarisierungen und Feindseligkeiten entstehen, die eine Verengung des Denkens mit sich bringen. So dokumentiert der Psychoanalytiker Sergio Benvenuto den Verlauf einer Supervisionsgruppe mit russischen Kolleg:innen, in der das zerstörerische Potenzial für zwischenmenschliche Beziehungen deutlich wird, wenn das Sprechen über den Krieg nicht gelingt.
Es ist verständlich, dass der Krieg in der Ukraine - anders als andere in unserer Gegenwart, die mit Schweigen seitens psychoanalytischer Institutionen hingenommen werden - Reaktionen hervorruft. Dieser Krieg findet in unmittelbarer Nähe statt und hat ein katastrophales Potential für unser Leben in Europa und in Deutschland.
Herr Grabska zitiert Freud, der jedes Menschenleben gleichwertig betrachtet, "weil jeder Mensch ein Recht auf sein eigenes Leben hat, weil der Krieg hoffnungsvolle Menschenleben vernichtet, den einzelnen Menschen in Lagen bringt, die ihn entwürdigen, ihn zwingt, andere zu morden, was er nicht will, kostbare materielle Werte, Ergebnis von Menschenarbeit, zerstört, u. a. mehr" (Freud 1932).
In diesem Sinne beschäftigt uns das Schweigen über geographisch und psychisch ‚ferner‘ liegende Kriege und die davon betroffenen Kolleg:innen. Als Psychoanalytiker:innen sind wir aber nicht nur an dem Text interessiert, sondern auch an dem Subtext, dem Schweigen und der Symbolik. Es ist daher für uns als DPG-Mitglieder irritierend zu erleben, dass nur dann, wenn es nah wird, es zu einer Stellungnahme kommt.
Es ist unumstritten, dass wir uns mit den Angegriffenen solidarisieren. Jedoch gehören nach unserem Verständnis weder nationales Denken noch eine nationale Symbolik - wie die Flagge auf der DPG-Homepage - zur Tradition der Psychoanalyse. Viele unserer analytischen Vorfahren und gegenwärtigen Kolleg:innen sind Migrant:innen und tragen mehrere Zugehörigkeiten in sich, die nicht so leicht zu kategorisieren sind.
Als „Lehre“ aus dem nationalsozialistischen Verbrechen wurde das Völkerrecht verabschiedet, das ein Über-Ich in Form einer hilfreichen Instanz etabliert, um politisch-destruktive Impulse begrenzen zu können. Tatsächlich wird dieses Gesetz je nach Interesse der Mächtigen selektiv umgesetzt, womit das Über-Ich eher willkürlich und archaisch fungiert. Die psychoanalytischen Instrumente dürften uns ermöglichen, auch in verwickelten Situationen zu reflektieren und die Gefahr der selektiven Wahrnehmung und uns unserer toten Winkel gewahr zu werden.
Es ist beängstigend, wie schnell in der deutschen Gesellschaft, in der das „wir“, der Nationalismus und die Militarisierung tabuisiert wurden, von „wir“ gegen „sie“ die Rede geworden ist.
In der DPG-Stellungnahme werden Psychodynamische Hypothesen vorgestellt, um uns das Unerträgliche fassbar und das Unbegreifliche konzeptualisierbar zu machen. Gleichzeitig wird eine Person außerhalb eines Behandlungsrahmens analysiert,wenn auch, um die Motivation des Aggressors auszuloten. Er wird als „Iwan“ gesehen.
In diesem Zusammenhang erscheint es uns wichtig, auch darüber nachzudenken, welche Abwehrmechanismen uns in der deutschen Fachgesellschaft und unseren Institutionen bewegen, das Böse exklusiv in Anderen personifiziert zu sehen, „unsere Demokratie“ und „Zivilisation“ zu idealisieren und dabei unsere eigene Beteiligung in den Kriegen zu verleugnen.
Der Sog, den ein Krieg entfacht, kann verführen, die Verluste auf allen Seiten aus dem Auge zu verlieren. Die Schriftstellerin Arundhati Roy drückt es besseraus: „Selten werden Kriege von Menschen gewonnen, selten werden sie von Regierungen verloren. Menschen kommen um, Regierungen häuten und regenerieren sich wie das Haupt der Hydra. Sie verwenden Flaggen, um erst die Hirne der Leute luftdicht einzuwickeln und echtes Nachdenken zu ersticken und dann, um sie als feierliche Leichentücher über die verstümmelten Toten zu breiten.“
Berlin und Stuttgart, 30. März 2022
Shirin Atili, Dr.Burcu Coşkun, Ferişde Ekşi, Iris Hefets, Marie Schmitz
Gedanken eines Psychoanalytikers kurz nach Beginn des Krieges in der Ukraine
Peter Gabriel
»Sie [die Erziehung] sündigt außerdem darin, daß sie ihn [den jugendlichen Menschen] nicht auf die Aggression vorbereitet, deren Objekt er zu werden bestimmt ist. Indem sie die Jugend mit so unrichtiger psychologischer Orientierung ins Leben entläßt, benimmt sich die Erziehung nicht anders, als wenn man Leute, die auf eine Polarexpedition gehen, mit Sommerkleidern und Karten der oberitalischen Seen ausrüsten würde.« S. Freud, 1930a, Das Unbehagen in der Kultur, S. 494
Nun ist also das eingetreten, was angeblich keiner (mal wieder) für möglich gehalten hat: Krieg!
Freud schrieb 1915 in Zeitgemäßes über Krieg und Tod: »Der Krieg, an den wir nicht glauben wollten, brach nun aus und er brachte die – Enttäuschung« (Freud, 1915b, S. 227). Etwas später fährt er fort:
»Sie ist, strenge genommen, nicht berechtigt, denn sie besteht in der Zerstörung einer Illusion. Illusionen empfehlen sich uns dadurch, dass sie Unlustgefühle ersparen und uns an ihrer Statt Befriedigungen genießen lassen. Wir müssen es dann ohne Klage hinnehmen, dass sie irgendeinmal mit einem Stücke der Wirklichkeit zusammenstoßen, an dem sie zerschellen« (ebd., S. 230).
Gar nicht vorstellbar war uns ein Krieg in Europa, schlimmer noch, ein Krieg, der schnell zum Flächenbrand werden oder – noch schlimmer – zu einer Explosion führen kann, »wie sie die Welt«, so Putin sinngemäß, »noch nie gesehen hat«. Vor wenigen Tagen hat er es so angedeutet: Wer sich den russischen Sicherheitsinteressen (wie von ihm definiert, eher jetzt immer deutlicher werdende Großmachtinteressen) in den Weg stellt, muss mit nie dagewesenen Konsequenzen rechnen. Was könnte damit anderes als die atomare Drohung gemeint sein?
Aber nur wenige wagen das bisher[2] direkt auszusprechen, unter ihnen der britische Historiker und Publizist Timothy Garton Ash im Guardian:
»Um es klar zu sagen: Als er in seiner Kriegserklärung am Donnerstagmorgen ›jedem, der versucht, sich uns in den Weg zu stellen‹, mit Konsequenzen drohte, ›denen er noch nie in seiner Geschichte begegnet sei‹, drohte er uns mit Atomkrieg« (Übersetzung P.G.).
Damit ist völlig klar: Sollte sich jemand Putins Willen entgegenstellen, sollte man ihn nicht (noch ein weiteres Mal) falsch einschätzen.
Die Beschäftigung mit der nuklearen Bedrohung hat mir in den letzten Jahren manchmal den Schlaf geraubt.[3] Ich meine aber, dass die Auseinandersetzung damit, so schwierig sie auch ist und so viel Abwehr sie auch hervorruft, trotzdem nötig war und sich auch für meine aktuelle Auseinandersetzung mit dem Ukraine-Krieg gelohnt hat. Dies will ich im Folgenden kurz skizzieren.
In einer lesenswerten Arbeit legte die kanadische Politikwissenschaftlerin und Psychoanalytikerin Steinberg (1988) dar, dass wir AnalytikerInnen fast alle bei diesem Thema zunächst damit beginnen, die atomaren Arsenale mehr oder weniger in Bausch und Bogen zu verdammen. Die damit verbundene Angst sei zu groß, als dass wir nicht nach unmittelbaren Lösungen streben würden, darunter auch einseitigen. Mir ist es nicht anders ergangen, aber meine Ansichten haben sich seit den 1980er Jahren gewandelt, als ich noch vehement gegen die Aufstellung der Pershing-Raketen und damit gegen den NATO-Doppelbeschluss war. Nach dem Ende des Kalten Krieges habe ich mich lange nicht mehr mit dieser Problematik befasst, bis NATO-Generalsekretär Stoltenberg 2016 das zweite nukleare Zeitalter ankündigte.
Mein kurzes Fazit aus meiner erneuten intensiven Beschäftigung mit dieser Thematik lautet: Es wird und kann keine schnelle Lösung des nuklearen Dilemmas (wie generell der gesamten Sicherheitspolitik) geben. Das gilt gerade jetzt ganz besonders, nachdem Putin über die Ukraine hergefallen ist und er, nicht zum ersten Mal, noch sehr viel Schlimmeres in den Raum gestellt hat. Und das gilt selbst dann noch, wenn man die Fehler des Westens, über die so heftig gestritten wird und über die selbst ExpertInnen immer noch zum Teil völlig widersprüchliche Aussagen machen, einbezieht: Der brutale Bruch des Völkerrechts bleibt durch nichts zu rechtfertigen, schon gar nicht seine Überlegungen zu nie dagewesener, vernichtender Gewalt.
Man sagt von Putin, dass er nicht verlieren könne. Wir im liberaldemokratischen Westen haben also allen Grund, in dieser aufgeheizten Zeit Weitsicht walten zu lassen. Vor allem darf man ihm selbst in diesen Kriegszeiten weder das Gefühl von existenzieller Bedrohung noch von Niederlage vermitteln wollen, und gleichzeitig muss man ihm doch ganz klare Grenzen setzen. Das ist die Aufgabe der Politik und bleibt es, auch wenn schon die Waffen sprechen und wir noch näher am Abgrund sind als jemals zuvor … Wie soll das gelingen können?
Die erste Voraussetzung ist, dass wir uns keine Illusionen über einen Teil unserer »Natur« machen. Freud hat es kurz und bündig in seinem Brief an Einstein Warum Krieg? so ausgedrückt: »Interessenkonflikte unter den Menschen werden also prinzipiell durch die Anwendung von Gewalt entschieden. So ist es im ganzen Tierreich, von dem der Mensch sich nicht ausschließen sollte« (Freud, 1933b, S. 13).
Da wir nun einmal so sein können, wie sich gerade jetzt erneut erwiesen hat, ist jeder Glaube an das prinzipiell oder »eigentlich« Verträgliche und Prosoziale im Menschen – eine Ansicht, die ja auch einige psychoanalytische Richtungen vertreten – illusionär und in der Folge naiv. Nein, der Narzissmus kann sich wirklich an alles heften, auch an die Destruktion.
Von daher brauchen wir Verhandlungsbereitschaft und leider gleichzeitig auch militärische Stärke, um mit dieser »Zwei-Säulen-Politik« keinerlei Machtvakuum entstehen zu lassen. Zu dieser Erkenntnis zu kommen, war für mich wie für viele andere ein langer Weg.
Meines Erachtens können wir nur so dafür sorgen, dass wir allmählich von dem nuklearen Abgrund wegkommen, der unser gesamtes Denken und Handeln entweder lähmt oder radikalisiert und dadurch so gefährlich macht. Das ist natürlich ein langfristiges Ziel, das jetzt wieder mehr noch als vor einer Woche auf dem Prüfstand steht.
Bewegen wir uns jetzt aber zu unvorsichtig, kann die gesamte soweit einigermaßen bestehen gebliebene Abschreckung in sich zusammenfallen.
Warum schreibe ich das als Psychoanalytiker, der sich bewusst ist, dass diese seine Ausführungen in jeder anderen Hinsicht laienhaft sind? Seit Jahren ringe ich mit Überlegungen, wie das Politische wieder in unsere klinische Praxis eingebracht werden kann, ohne die Psychoanalyse zu politisieren. Wir sind alle voneinander und vom großen Ganzen abhängig. Was nützen die besten Therapien, wenn alles innerhalb eines Tages zu Ende sein kann? Dabei gilt es gleichzeitig, uns unserer in jeder Hinsicht begrenzten Möglichkeiten bewusst zu bleiben.
Einer meiner Patienten brachte es gegen Ende seiner Analyse auf den Punkt: »Jetzt sehe ich meiner Zukunft mit mehr Zuversicht entgegen« – dann schwieg er sehr lange und nachdenklich und fügte ganz leise hinzu: »wenn wir alle das alles denn überhaupt überleben« (Gabriel, 2021, S. 112). Genauso ist es.
Damit stehen wir PsychoanalytikerInnen vor keinen anderen Schwierigkeiten als die meisten unserer PolitikerInnen auch und, wie ich meine, alle Menschen, die Frieden wollen: Der Wunsch danach ist der richtige Ausgangspunkt und die Arbeit auf dieses Ziel hin erstrebenswert.
Nehmen wir aber Freud und dazu auch erneut unsere jüngsten Erfahrungen ernst, so dürfen wir uns keine Einseitigkeiten erlauben, weder in unserem Menschenbild noch politisch. Jetzt, unter Todesdrohung, ist eine ödipale Verfasstheit, ein binokulares Sehen oder ein Halten mit beiden Händen an all den notwendigen Stellen allerdings noch sehr viel schwieriger zu leisten.
Freud hat unsere Destruktivität wirklich ernst genommen, wenngleich von der politischen Dimension in seinen Behandlungen explizit nicht die Rede ist. Wir sollten uns wieder mehr mit der gesellschaftlichen Dimension des Anti-Libidinösen in uns Menschen beschäftigen. Das ist die entscheidende und überlebenswichtige Frage. Nur eine Psychoanalyse, die das zum Inhalt macht, steht in der Tradition von Freud. Jedenfalls wäre es meines Erachtens kein (Kultur-)Pessimismus, sondern Realismus, den wir dringend stärken sollten.
Literatur
Freud, S. (1915b). Zeitgemäßes über Krieg und Tod. GW X, S. 324–355.
Freud, S. (1930a). Das Unbehagen in der Kultur. GW XIV, S. 421–506.
Freud, S. (1933b). Warum Krieg? GW XVI, S. 12–27.
Gabriel, P. (2021). Über die notwendige Triangulierung mit politischen Realitäten in Psychoanalysen. EPF Bulletin, 75, 105–114.
Steinberg, B.S. (1988). Strategists, Psychoanalysts and Nuclear Deterrence. In H.B. Levine, D. Jacobs & L.J. Rubin (Eds.). Psychoanalysis and the Nuclear Threat. Clinical and Theoretical Studies (S. 145–168). Hillsdale: The Analytic Press.
Supplement zum Jahrbuch der Psychoanalyse Heft 84 vom März 2022, Psychosozial-Verlag, Gießen
Internetquellen
https://www.theguardian.com/commentisfree/2022/feb/24/russia-invasion-ukraine-europe-ukrainians (zuletzt aufgerufen am 27.2.2022).
Biografische Notiz
Peter Gabriel, Dipl.-Psych., DPG/IPV-Lehranalytiker und Supervisor, ist als Psychoanalytiker seit 1988 niedergelassen in Dossenheim bei Heidelberg.
[1] Für die Initiative, freundschaftliche Ermutigung und kollegiale Unterstützung danke ich Wolfgang Hegener.
[2] Am Tag vier nach Beginn des Überfalls.
[3] Etwa wenn Trump in Richtung Kim Jong-Un tönte, er habe den größeren Atomknopf (button), oder fragte, wofür die Amerikaner denn eigentlich Atomwaffen hätten, wenn sie sie nicht anwenden dürften.
Das tiefe Bedürfnis zu handeln
Die Entrüstung und Wut über den infamen Angriff auf die Ukraine macht es schwer, psychoanalytisch zu denken, überhaupt zu denken, aber: Das Denken muss zurückkommen!
Die fassungslose Hilflosigkeit seit dem 24.2.2022, dem Tag der Invasion des russischen Militärs und Beginn des Angriffskriegs gegen die Ukraine, war unerträglich. Inzwischen kann neben der vehementen Emotion, der Empörung und einem unerträglichen Gefühl der Ohnmacht auch wieder die Kraft zur Handlung gespürt werden: Demonstrationen für den Frieden in der Ukraine in vielen Ländern Europas und der Welt, aktive Unterstützung des angegriffenen Landes.
Der Raum, in dem wir uns das Denken, politisch Sein und Handeln zurückerobern müssen und können, wächst wieder. Auch innerhalb von Russland.
Wir sind als Psychoanalytiker Anwälte des freien Denkens und Sprechens. Eine Diktatur verbietet uns das, sie verweist die Psychoanalyse in den Untergrund. Wir denken dabei auch an die russischen Bürger, denen das Wort verboten wird, die verhaftet werden, wenn sie ihre anderslautende Meinung und ihren andersgearteten Willen laut äußern.
Das wirklich Perverse ist die Lüge über die Feindschaft zwischen ukrainischen und russischen Menschen, über die Notwendigkeit der Expansion Russlands. Die Verachtung gegenüber dem Bedürfnis ALLER Menschen, sicher und friedlich zu leben, schockiert uns, weil sie von Menschen kommt (also solchen wie wir…) und durch Menschen zu einer tödlichen Waffe wird.
Wir sehen als Psychoanalytiker, dass diese entgrenzte, von Verachtung der Unterschiedlichkeit unterlegte Zerstörung entsteht aus einem Machtanspruch, der sich über Alles stellt und die Lebensform anderer Menschen – auch uns - als Nichts, als evtl. zu nutzendes, sonst unwichtiges Material verwirft.
Wir lassen deshalb die Propagandamaschinerie und die Lügenkonstruktion der russischen Staatsführung nicht unwidersprochen.
Wir sehen unsere eigene Verantwortung als Bürgerinnen und Bürger, als Psychoanalytikerinnen und Psychoanalytiker auch darin, nicht aufzugeben, uns mit gesellschaftlichen Prozessen auseinanderzusetzen, unsere gesellschaftliche Verantwortung zu definieren, zu entwickeln und wahrzunehmen. Können wir dazu beitragen, dass Destruktivität sich nicht weiter ausbreitet, nicht zusätzlich explodiert – und wenn, dann wie?
Wir denken an unsere Kolleginnen und Kollegen in der Ukraine und in Russland, die - wie wir wissen - sich der Zerstörung des gleichberechtigten Zusammenlebens, der Zerstörung von gegenseitigem Respekt, Achtung und möglichem Vertrauen im Denken und Fühlen und der Zerstörung der Leiber entgegenstellen.
Wir haben vermutlich auch Schuldgefühle, denn wir haben uns im Stillen immer erhofft, dass es am Ende „doch nicht so schlimm“ werden würde. Wir können und wollen nicht glauben, dass ein solcher Flächenbrand wieder Wirklichkeit geworden ist! Obwohl wir es in Deutschland seit dem Nationalsozialismus, dem entsetzlichen zweiten Weltkrieg und einem menschenverachtenden nationalsozialistischen Regime eigentlich besser wissen.
Aber wir wissen auch seit damals – es gibt ein Fenster, in dem der diktatorischen Machtausübung, die eine Angstregierung errichtet, noch entgegengetreten werden kann. Dabei wollen wir helfen, wollen das aus dem Erleben von unbeschreiblicher Machtlosigkeit und immenser Wut der ersten Tage entstandene tiefe Bedürfnis zu handeln nutzen:
- Gefahren rechtzeitig erkennen und sich nicht durch ein schönfärberisches und vermeintlich humanistisches Weltbild trunken machen lassen, welches menschenmögliche Destruktivität bagatellisiert oder gar leugnet.
- laut werden, i.S.v. aussprechen, was unerträglich ist.
- Demokratie lernen, immer wieder von Neuem, nicht müde werden darüber.
- Unsere gesellschaftliche Verantwortung als Psychoanalytiker genauer definieren, entwickeln und wahrnehmen – auch im Vorfeld von destruktiven Eskalationen – gerade weil wir um die menschliche Destruktivität wissen und auch wissen, dass sie in Gruppenprozessen leicht eskaliert.
11.3.2022
Christoph Tangen-Petraitis, Leiter der DPG Arbeitsgemeinschaft „Psychoanalyse in der Gesellschaft“ mit Bettina Jesberg, Veronika Grüneisen und Gisela Zemsch