KTK 2023 in Brüssel

von DPG

Bericht über die kasuistisch-technischen Konferenz in Brüssel im EPF-House vom 17. bis 19.11.2023

In diesem Jahr begann die ktK in Brüssel mit einer Kunstführung am Freitagnachmittag. Wir trafen uns im „Old Masters Museum“, wo unsere Kollegin Bettina Hahm einen Kontext zur Lektüre des „Wunderblocks“ (Freud) herstellte und unsere „Wahrnehmungsapparate“ zu einer intensiven Betrachtung von Pieter Bruegels d. Ä. Bild „Der Sturz des Ikarus“ einlud. Sie leitete unsere gemeinsame Entdeckungsreise der sichtbaren und verborgenen Spuren von zig-fachen bedeutungsvollen Details, die nicht nur an ein Palimpsest, sondern auch an die Analyse von Träumen erinnerte, welche die Überfülle an möglichen Assoziationen in Worte und Bedeutungen zu fassen versucht. Bettina Hahm ermöglichte uns mit ihrer Führung ein sehr sinnliches gemeinsames Erlebnis zu Beginn der Konferenz.

Nach einem herzlichen Empfang mit Imbiss im EPF-Haus startete die gemeinsame Arbeit am Freitagabend mit einem Literaturseminar über Freuds Notiz über den „Wunderblock“ (GW, Bd. 14, S. 4-8), ein Text, in dem sich Freud mit dem Mysterium Wahrnehmung, Gedächtnis und Erinnerung  und seiner Beziehung zum Unbewussten beschäftigt. Lutz Garrels teilte mit uns in einem Impulsreferat seine Assoziationen zu Freuds Notiz und bereicherte uns darüber hinaus mit Gedanken aus Sekundärliteratur (Jacques Derrida, Lisa Schmuckli, Ilka Quindeau). Viele von uns kannten den Wunderblock aus der eigenen Kindheit, sodass schnell eine lebendige Diskussion mit entsprechenden Erinnerungen und Assoziationen aufkam. Insbesondere das (omnipotente) Gefühl beim zur Seite-Wischen des Textes war vielen von uns noch sehr präsent. Im übertragenen Sinn haben wir mit dem Text „Wunderblock gespielt“ – was blieb, war ein Staunen darüber, welche Bandbreite an Eindrücken und psychoanalytischen Gedanken auch ein kurzer Text hinterlassen kann. 

Im weiteren Verlauf (Samstag und Sonntag) wurden drei Behandlungen anhand zwei aufeinander folgender Stundenprotokolle referiert. Sie wurden mit Serge Frische aus Luxemburg und Eva Schmid-Gloor aus Zürich diskutiert; als Diskussionsmethode kam wieder die „Fishbowl“ (Innenkreis-Außenkreis-Methode) zur Anwendung. 

Am Samstagvormittag stellte Frau Kowalenko aus Berlin eine fortgeschrittene Behandlung vor, die von Irene Bozetti moderiert wurde. Es gab eine kontroverse Diskussion darüber, ob die negative Übertragung (als Angst des Pat vor seinem Fortschritt) gedeutet (da entängstigend) oder mitgedacht und gehalten (i.S. von Winnicotts Objektverwendung) werden sollte? Ist das Reichen eines Taschentuchs Abwehr der negativen Übertragung oder regulierendes Enactment, das erst verstanden werden will? Hierzu gab es unterschiedliche Auffassungen, die nun die Vorstellende weiter verdauen und integrieren kann. Außerdem wurde in der Gruppendynamik eine Hin- und Her-Bewegung beobachtet zwischen dem Bemühen, Denkräume zu öffnen und zu schließen und in Zusammenhang mit einer möglicherweise transgenerationalen Weitergabe von Traumatisierungen gebracht. Die Bedeutung des Rahmens wurde in diesem Fall als essenziell gewertet für den Schutz vor Fragmentierungsängsten, was die Vorstellende abschließend damit kommentierte, dass sie im Rahmen ihrer Vorstellung in sich eine Veränderung wahrgenommen habe von der anfänglichen Angst, „zerfleddert“ zu werden („jetzt bin ich dran“) und dem späteren Gefühl, (durch die Gruppe) wieder zusammengesetzt worden zu sein. 

Die zweite Behandlung am Samstagnachmittag stellte uns Frau Dunker aus Offenbach vor, moderiert  von Monica Fritzsche. Frau Dunker beschrieb eine schwierige Behandlung mit von Anfang an imponierender negativer Übertragung. Mit bemerkenswerter Offenheit ließ uns die Referentin teil haben an ihrer Gegenübertragung: dem Gefühl, „nutzlos bzw. in eine Falle getappt“ zu sein. Während Einigkeit über die Destruktivität des Interaktionsgeschehens herrschte, wurde auch bei diesem Fall kontrovers diskutiert, wie behandlungstechnisch mit der negativen Übertragung umzugehen sei. Wieder wurde Winnicott herangezogen, dieses Mal, mit der Frage, ob von der Mutter zu früh eine Geste kam (impingement, missmatching) und wie sich das Winnicottsche „Falsche Selbst“ in Übertragung und Gegenübertragung zeigt. Dem wurde gegenübergestellt, dass wir bei solchen Behandlungen unter Druck geraten, diese zu beschwichtigen und dass dies bei primärem Neid nicht hilft. Statt zu beschwichtigen, müsse der Neid auf das Gute gedeutet werden. Alternativ könnten wir behandlungstechnisch in einer masochistischen Position verweilen und solange „zuschauen“, bis der/die Pat merkt, dass er/sie nicht mehr triumphiert und damit die Erfahrung machen kann, dass die Analytikerin die Attacken überlebt – ein in der Regel sehr zeitintensiver Prozess. 

Der Samstagabend war dann insofern ein „High Light“, als bei einem hervorragenden gemeinsamen Abendessen im Restaurant „Le Mess“ Gisela Klinckwort als Leiterin der DPG-AG Psychoanalytische Kasuistik verabschiedet wurde. Sie war bei der Gründung der AG dabei und hat die AG Psychoanalytische Kasuistik 17 Jahre lang mit viel Herzblut und Engagement geleitet, was in den Dankesreden (und liebevoll ausgesuchten Geschenken) des Vorsitzenden der DPG Eckehard Pioch und ihrer langjährigen Wegbegleiter (Jochen Haustein, Klaus Grabska, Ingo Focke (per Brief) und Irene Bozetti für das Team der AG Kasuistik) in anrührender Weise zum Ausdruck kam. Es wurde spürbar, was die DPG Gisela Klinckwort zu verdanken hat und wie groß der Wunsch ist, die kasuistischen Konferenzen in Wertschätzung Ihrer Arbeit fortzuführen. Krönender Abschluss war dann eine musikalische Einlage in Form einiger Klezmer-Musikstücke mit Klarinetten und Akkordeon, gespielt von Eva Rosenau, Norbert Mierswa und Samuel Kenntner. Eine Musik, die - passend zum Anlass - Freude und Dankbarkeit sowie Sehnsucht, Melancholie und Abschiedsschmerz gleichermaßen zum Ausdruck brachte.

Am Sonntag schließlich folgte der letzte Fall, den Eva Schmid-Gloor aus Zürich vorstellte und der von Gisela Klinckwort moderiert wurde. Eva Schmid-Gloor stellte eine langjährige Psychoanalyse vor, in der es in der Übertragungs-/Gegenübertragungsbeziehung um das (psychische) Überleben mit eingefrorenen Affekten, Parentifizierung und vertauschten Rollen ging (macht die Pat die Analyse für sich oder für die Analytikerin?). Diskutiert wurde in der Gruppe u.a. über das verführerisch (überlebenswichtige) interessante Material der Pat. und dessen Funktion als Abwehr. Psychoanalytische Konzepte, die in der Diskussion auftauchten, waren u.a. Meltzers adhäsive Identifizierung, Tustins autistische Verkapselung, Winnicotts Angst vor dem Zusammenbruch sowie die Begriffe Entmenschlichung und Vernichtung. Auch dieser Fall hinterließ bei Referentin und Gruppe einen bleibenden Eindruck und „volle Container“.

In der Abschlussrunde kamen neben dem Dank für die großartige Organisation auch Vorschläge auf, wie solche kasuistischen Konferenzen noch besser beworben werden können, z.B. Kolleg:innen persönlich anzusprechen, auch Kandidat:innen als Vorstellende vorzusehen sowie bekannte Termine frühzeitig auf der Homepage freizuschalten.

Nach einem Abschiedssekt mit ein paar Snacks verabschiedeten wir uns voneinander - bereichert mit persönlichen und fachlichen Erfahrungen und Begegnungen, die - ähnlich wie im Wunderblock - nachhaltige Ein-Drücke in uns hinterlassen haben.

Anne Suwita, Altdorf, 12. Dezember 2023

 

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