„Scham“ – 21. Ringvorlesung des Instituts für Psychoanalyse Frankfurt ipf

von DPG

„Scham“ – 21. Ringvorlesung des Instituts für Psychoanalyse Frankfurt ipf

„Wie ein Hund!“ sagte er, es war, als sollte die Scham ihn überleben.

Dieses Zitat, es ist der Schlusssatz aus dem Roman Der Proceß von Franz Kafka, hatten wir unserer aktuellen Ringvorlesungsreihe über die Scham vorangestellt. Jeder Mensch kennt das Gefühl von Scham und Peinlichkeit, das entsteht, wenn man gegen eine Norm verstößt, die man eigentlich anerkennt, oder wenn man sich in einem Mangel bloßgestellt sieht, wie angesichts einer Schwäche oder Verfehlung. Für das Schamgefühl charakteristisch ist dabei die Furcht vor dem Blick der Anderen und deren Verachtung, dem man entkommen möchte und geradewegs im Erdboden versinken, wie der Volksmund sagt. Sigmund Freud ging es in der psychoanalytischen Klinik und Theorie bereits früh um peinliche und anstößige Gefühle, die er als Ursache der Abwehr und somit der Symptombildung verstand. Er diskutierte die Scham auch als Reaktionsbildung auf die Schaulust und unterschied zwischen Scham als sozialer und Schuld als moralischer Angst. Vor dem Hintergrund des Ödipuskomplexes standen jedoch lange Zeit die Affekte der Kastrationsangst und der Schuldgefühle im Zentrum des Interesses. Erst seine Arbeiten Zur Einführung des Narzißmus und Das Ich und das Es mit der Einführung des Strukturmodells legten konzeptionelle Grundlagen zu Ursache und Wirkung des Schamgefühls, nämlich dem eigenen Ich-Ideal nicht zu entsprechen.
In den insgesamt fünf Vorträgen der Ringvorlesung kamen zunächst unterschiedliche psychoanalytische Perspektiven zu Wort: Scham im Allgemeinen, ihre Rolle in der inneren Welt der Patienten, im Therapeuten, sowie im Kontext gesellschaftlicher und institutioneller Prozesse. Am 20.04.2023 war der Literaturwissenschaftler, Herr Prof. Achim Geisenhanslüke, Professor für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaften an der Frankfurter Goethe-Universität mit dem Vortrag „Peinliche Prosa. Schamkonflikte bei Freud und Kafka“ zu Gast. Er hat sich u.a. in insgesamt drei Bänden mit der Geschichte der Infamie und deren Zusammenhängen zur Literatur auseinandergesetzt, wovon einer explizit den Affekt der Scham zum Thema hat.

Herr Geisenhanslüke ging zunächst auf die Rolle der Affekte bei Freud ein. Einerseits betone Freud ihre Wichtigkeit, wie zum Beispiel schon in den Studien über Hysterie, in denen er den Begriff der traumatischen Hysterie im Zusammenhang mit peinlichen Affekten des Schreckens, der Angst, der Scham, des psychischen Schmerzes einführte. Auch in Bezug auf die Therapie betone er, dass affektloses Erinnern fast immer wirkungslos sei. Andererseits bekannte er in der späten Schrift Hemmung, Symptom und Angst, dass „wir auch nicht wissen, was ein Affekt ist“. Scham spielt in Freuds Schriften zunächst kaum eine Rolle, sie taucht am ehesten in Verbindung mit dem Affekt des Ekels im Zusammenhang mit dem Sexualtrieb auf.  Ein Schlüsselaffekt sei die Peinlichkeit aber dennoch bei Freud, wenn auch nicht auf der Ebene einer theoretischen Begriffsklärung, sondern in dem in der Traumdeutung inszenierten Spiel von Verbergen und Aufdecken, das unauflöslich mit der Scham verbunden sei, da Freud auf seine eigenen Träume zurückgreift. Er zeigt dies insbesondere am zweiten Traum auf, der in Die Traumdeutung eingegangen ist, den sogenannten Onkel-Traum. Er vollzieht nach, wie Freuds Schritte zur Deutung seines Traumes selbst proklamierte Aufrichtigkeit mit einer Strategie wissentlicher Auslassung verbinden, da die Deutung ihn zu einem peinlichen Aspekt seiner Familiengeschichte führt, dem eines straffällig gewordenen Onkels. Dabei werden mit dem Traum zweierlei Schamvarianten erkennbar: einerseits in einer befürchteten Herabsetzung des eigenen Ichs durch die wenig ruhmreiche Familiengeschichte, andererseits indem sich Freud selbst als Rufschädiger zeigt, wenn er im Traum aus dem Freund einen Verbrecher und Schwachkopf macht, um die eigene Integrität zu retten. Die Notwendigkeit, eigene Träume zum Gegenstand der Psychoanalyse zu machen, kann als eine beständige Konfrontation mit der Scham gesehen werden, gegen die Freud sich auf unterschiedliche Weise – wie durch Strategien der Entlastung oder des Verbergens – zur Wehr zu setzen versuchte.  Peinlichkeitsempfindung sind daher kein peripheres Thema der Psychoanalyse, sondern der Stoff, aus dem sie selbst geschnitzt ist.

Indem Geisenhanslüke aufzeigte, dass sich in der Literatur der Jahrhundertwende insbesondere Schamkonflikte inszenierten, wie z.B. im Werk von Arthur Schnitzler, leitete er zur Rolle der Scham bei Franz Kafka über. Die Kafka-Forschung sei zumeist auf das Thema der Schuld und selten auf den Komplex der Scham fokussiert gewesen. So lasse allein der Titel des Romanfragmentes Der Proceß an Fragen der Schuld denken. Dabei stand für die Forschung meist die Figur des Vaters als kontrollierende und bestrafende Instanz im Vordergrund, insbesondere da Kafka mit dem Brief an den Vater wie einen Schlüssel zu seinem Werk vorlegte, der scheinbar unausweichlich in den Themenkomplex von Schuld und Gewissenbildung hineinführte. Aber gerade der Brief an den Vater weist auf die zentrale Bedeutung der Scham hin, wenn Kafka die körperliche Erfahrung der Scham beschreibt, wie beim gemeinsamen Ausziehen mit dem Vater in der Badekabine. Sie lässt den Zusammenhang von Scham und Verzweiflung, nicht den von Schuld und Verzweiflung deutlich werden.

Die Beschämung des Subjekts über die Position der Macht, im Brief an den Vater durch den übermächtigen Vater gegen den ohnmächtigen Sohn dargestellt, inszeniere sich auch in Kafkas literarischen Texten, werde dort aber zugleich in der Form der Groteske aufgefangen und somit unterminiert. Mit dem Verweis auf Walter Benjamin, für den die Scham „die stärkste Gebärde Kafkas“ sei, ist „die Scham nicht nur Scham vor den anderen, sondern kann auch Scham für sie sein“. Der Vater erscheint nicht allein als Auslöser der Scham, sondern zugleich deren Referenzpunkt, d.h. es geht nicht nur um die Scham des ohnmächtigen Jungen vor dem Vater, sondern mehr noch um die Scham des Kindes für den peinlichen Vater, für dessen Redeweisen, Tischmanieren, und besonders dessen väterlichen Rat, ein Bordell aufzusuchen. Auch der erste Satz im Roman Der Proceß macht deutlich, dass es nicht um Schuld oder Moral geht, sondern um die Strategie einer Infamierung: „Jemand musste Josef K. verleumdet haben, denn ohne daß er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet.“. Und wie für die Scham charakteristisch, sieht sich Josef K. immer wieder der Instanz des Blicks ausgesetzt, dargestellt durch die Blicke der Nachbarn oder der Angestellten im Büro. Der Proceß sei eine groteske Szenerie der fortgesetzten Peinlichkeit, die sich ständig zwischen Tragödie und Komödie hin- und herbewege. Was im Proceß auf dem Spiel stehe, sei, wie in Freuds Onkel-Traum, die Familienehre: Josef K. wird durch seinen Onkel ermahnt, nicht zur Schande zu werden, die die ganze Verwandtschaft mitreißen könnte. Die Geschichte von Josef K.s Beschämung vollendet sich mit seinem Tod. Als unerschütterlich erweist sich seine Unterwerfung unter ein ihm unbekanntes Gesetz, dessen Macht er in der Scham anerkennt, ohne sich ihm entziehen zu können. Was vom Subjekt übrigbleibt, ist am Ende die Scham, die er vor dem Auge der anderen für immer behält. Der Vortrag schloss mit der Bemerkung, dass Kafka die Peinlichkeitsszenarien, die Freud in der Welt des Traumes findet, bis zum bitteren Ende ausbuchstabiere.

Anschließend an diesen Vortrag ergab sich eine angeregte Diskussion, die einerseits das „Überleben“ der Scham aufgriff, wie Scham transgenerationell tradiert werden kann und sich in der Bedeutung von Schamkonflikten in Familien zeige. Dabei wurde die Rolle von Scham- und Schuldkomplexen in der Pathologie von Patienten diskutiert, aber auch im speziellen Bezug zu Eltern- oder Großelterngenerationen im Kontext des Nationalsozialismus. Andererseits ließ die Inszenierung der Scham in Kafkas Roman auch manche Diskutanten an gegenwärtige Mechanismen und Tendenzen in der Gesellschaft denken, in denen Akte der Beschämung gerade als Mittel der Macht benutzt werden.


Daniela Saalwächter, Frankfurt, 23.04.2023

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