(Un-)Gewissheiten – Psychoanalyse zwischen Common Ground und Diversität
von DPG
Frau Antje von Boetticher, Leiterin der Vorbereitungsgruppe und der DPG-AG Göttingen, sprach in ihrer Begrüßung davon, wie sehr schon bei der Vorbereitung der Tagung deren Organisation durch die gesellschaftlichen (Un-)Gewissheiten der Corona Pandemie gestört wurde. Die im Tagungsthema benannten Unsicherheiten waren plötzlich konkret präsent: würde die Tagung überhaupt stattfinden können, in Präsenz oder online? Würde das organisatorisch machbar sein auf dem Hintergrund der nicht vorhersehbaren Dynamik der Corona Pandemie mit ihren Ängsten und ihrem Schrecken? Es gelang – trotz vieler Ungewissheiten –, und an dem Tagungswochenende verfolgten teilweise bis zu 320 Zuschauer eine spannende und hochinteressante Konferenz auf ihren Bildschirmen. Es gab zwar keine Seminare, Parallelvorträge oder Treffen in „Wandelhallen“, wie es in früheren Tagungen üblich war, aber dafür 9 aufregende, komplexe und anschauliche Vorträge, die in anschließender Diskussion von den Zuhörern ergänzt und so interessiert besprochen wurden, dass die vorgesehene Zeit nie ausreichte, um alle Beiträge zu berücksichtigen. Die äußeren und inneren (Un)Gewissheiten hatten sich außer anfänglicher kleiner technischer Schwierigkeiten in einen intensiven Prozess des Austausches und des Nachdenkens umgewandelt. -
Thematisch ging es bei dieser Tagung um (Un-)Gewissheiten im psychoanalytischen Diskurs, d.h. um die Frage eines Common Grounds der Psychoanalyse und um ihre Diversität. Klaus Grabska, Vorsitzender der DPG, bemerkte zum Abschluss der Tagung, er verstehe den „Common Ground“ als Übereinstimmung der anwesenden Kollegen, während dieser Tagung in einen gemeinsamen Prozess des Nachdenkens und der inneren Selbstreflexion über neue gesellschaftliche Entwicklungen und die damit verbundenen eigenen Verunsicherungen in der psychoanalytischen Arbeit gekommen zu sein. Diesen Prozess der Reflexion und Diskussion möchte ich im Folgenden kurz zusammenfassen:
Veronika Grüneisen führte mit ihrem Vortrag „Vom sicheren Wissen zum Umgang mit dem Ungewissen“ in das Tagungsthema ein. Sie beschäftigte sich mit der Ungewissheit im psychoanalytischen Denken und Arbeiten, mit Ungewissheiten in der Corona Pandemie und mit der Ungewissheit der DPG als Fachgesellschaft. Wie ein roter Faden zog sich die Erkenntnis durch ihren Vortrag, dass Ungewissheit zwar ertragen und ausgehalten werden müsse, aber dass der Umgang mit ihr weitere Entwicklungs- und Erkenntnisprozesse anstoße. Dafür brauchten wir den Dialog mit unseren Patienten und KollegInnen. Die Verunsicherung der Corona Pandemie verstöre unser haltgebendes Setting und zwinge uns, die äußere Realität (z. B. soziale Ungleichheit, Rassismus) anzuerkennen und in unserer Arbeit äußere und innere Realität miteinander zu verbinden bzw. miteinander zu reflektieren. Was das PTG beträfe, so seien wir hier mit einem „riesigen Ausmaß von Ungewissheiten“ konfrontiert. Wie damit umgehen? Sicher nicht nur aushalten und trauern, sondern auch Veränderungsmöglichkeiten neugierig ausloten, und zwar zusammen mit den Mitgliedern unserer Fachgesellschaft und den Angehörigen der älteren und jüngeren Generation!
Ingo Focke nahm in seinem Vortrag „Überzeugung, Täuschung und Ungewissheit - Warum ist es so schwer Analytiker zu werden und zu bleiben?“ das Thema der Verunsicherung in unserer klinischen Arbeit auf. Seiner Ansicht nach seien im Umgang mit Patienten unerschütterliche theoretische Überzeugungen eher hinderlich, da sich diese beim genauen Hinsehen als Ausdruck unseres unbewussten Widerstands entpuppen könnten. Vielmehr gehe es um ein skeptisches Hinterfragen bzw. Festhalten an alten und neuen Konzepten. Focke untersuchte diese Aspekte anhand dreier Elemente der psychoanalytischen Haltung: das Zuhören, das Verständnis von Übertragung und Gegenübertragung und die Abstinenz. Das Zuhören, die gleichschwebende Aufmerksamkeit auf Seiten des Analytikers, die dem Fluss der freien Assoziation auf Seiten des Patienten entspricht, sei unabdingbar für das klinische Verständnis. Es stehe in einem Spannungsfeld zur Beobachtung der Übertragungsszene, wobei Deutungen auch den unbewussten Widerstand oder die Angst der Analytikerin vor der Wahrnehmung des eigenen Unbewussten ausdrücken könnten. Auch die Übertragungsszene, die vertraute Lösungen anbiete und Lernen aus Erfahrung vermeide, erzeuge bei beiden Beteiligten im analytischen Setting Angst. Dies wahrzunehmen und zu deuten, fordere von der Analytikerin ein ständiges Hinterfragen ihrer Grundannahmen. In ihren Deutungen externalisiere sie unweigerlich ihre eigene innere Welt und enttäusche bzw. kränke den Patienten in seinem Abwehrsystem. Auch Abstinenz und Gegenübertragung seien schwer zu durchdringen, da in Vielem uns unbewusst und rätselhaft. Focke fragte sich, ob wir Analytiker geworden seien, „um keine Angst vor dem Unbewussten zu haben und dann merken, dass die nicht weggeht. ...Vielleicht ist das der Common Ground?“
Harriet Wolfe, praktizierende Psychoanalytikerin und designierte IPA Vorsitzende aus San Francisco, beschäftigte sich in ihrem anschließenden Vortrag primär mit den gesellschaftlichen kollektiven Verunsicherungen und ihren konflikthaften Folgen für unsere Arbeit und die psychoanalytischen Institute. Wie in ihrem Vortragstitel „Ties that bind in the Context of Uncertainty: Sibling Relationships and Resonance“ bereits benannt, ging es ihr um das Verständnis gruppaler Prozesse auf dem Hintergrund des „Geschwisterkomplexes“ (Renee Kaes 2008/17) und des Konzepts der Resonanz (Hartmut Rosa 2019). In ihrem lebendigen und vielfältigen Vortrag besprach sie in einer genuin psychoanalytischen Denkweise zahlreiche gesellschaftliche, organisatorische und persönliche Themen, die hier in Kürze nicht alle wiedergegeben werden können. Ihr Anliegen war die Öffnung der psychoanalytischen Perspektive hin zum umgebenden gesellschaftlichen Kontext und die wechselseitige Verschränkung unserer klinischen Arbeit in dem dyadischen Setting mit diesen kulturellen Bedingungen. Dabei ging sie der Frage nach, ob und wie sich Konflikte innerhalb psychoanalytischer Institute auch als „Geschwisterkomplex“ denken und verstehen lassen könnten, d.h. als unbewusste konflikthafte Inszenierungen von Macht, Eifersucht und Rivalität bei gleichzeitiger Sehnsucht nach Anerkennung und vertrauensvollem Halt durch die Geschwister. Ihrer Ansicht nach erzeugen Geschwisterbindungen massive Konflikte und repräsentieren auch „kreative, kraftvolle Energien für neue, frische Perspektiven“. Um diese konstruktiven Energien nutzen zu können, sei ein Resonanzraum wichtig, der nach Wolfe durch interessiertes empathisches Zuhören entstehe, bis hin zu einer Haltung, in der ich dem anderen Recht geben kann, auch wenn er eine andere Meinung habe (Ed Shapiro). Danach wäre es ihrer Ansicht nach möglich, psychoanalytisch über zugrundeliegende Konflikte und Verluste nachzudenken.
Mark Solms, Neurowissenschaftler und Psychoanalytiker aus Kapstadt/Südafrika sprach in seinem Vortrag über die „Revision der Theorie des Ödipuskomplexes“. Er belegte mit klarer Sprache und mit anschaulichen Beispielen seine Hypothese, dass entgegen Freuds Ansicht keine angeborene unbewusste Kastrationsangst, keine angeborene Inzestscheu, keine angeborene unbewussten Urphantasie und ein damit verbundenes Schuldgefühl existiere. Damit stelle er nicht die „psychologischen Phänomene“ des Ödipuskomplexes in Frage, sondern ausschließlich dessen vermeintliche biologischen Grundlagen. Da Erinnerungen nach heutiger Erkenntnis nicht vererbt werden könnten, habe sich Kastrationsangst, Inzestscheu und unbewusstes Schuldgefühl durch natürliche Selektion entwickelt und seien Folgen des Lernens aus Erfahrung. Eine große Bedeutung für dieses lebenslange Lernen sieht Solms im Spielen, bei dem soziale Regeln, Grenzen und Empathie erlernt werden.
Werner Bohleber sprach zu „Das Selbst als mentaler Akteur – neue Ansätze zu einem vernachlässigten Konzept der Psychoanalyse“. Er betonte in seinem Vortrag die notwendige Funktion des individuellen Selbst als „Self-Agency“, die in einen aktiven Akteur („I“) und in eine Repräsentation des Selbst („Me“) aufgeteilt sei, miteinander verbunden durch das Selbstwertgefühl. Der Raum des Selbst, in dem wir zur Selbstwirksamkeit fänden und in der triangulären Position über uns nachdenken könnten, sei für die Psyche notwendig. Dies zeigte Bohleber u.a. an Beispielen von Traumatisierungen und Somatisierungen auf. „Sie können kein Trauma heilen...aber Menschen können durch Aktivitäten in die Lage kommen, ihr Leben wieder zu gestalten“.
Die Gaetano-Benedetti-Gedächtnispreise 2020 und 2021 wurden nach einer kurzen Einführung von Marco Conci an Antje Günzel-Helmig (2020) und Jörn Grebe (2021), beide aus Hamburg, verliehen, die anschließend ihre Arbeiten vortrugen. Antje Günzel-Helmig berichtete in ihrem Vortrag „Das Phänomen des Verstummens und seine Bedeutung in einer adhäsiven Pseudo-Objekt-Übertragung“ über ihr Verständnis des Verstummens ihrer Patientin als Zweithautbildung, um sich vor neuen Verletzungen schützen zu können. Jörn Grebe, der über „Trans-oleszenz? Einige Überlegungen zu (Trans-)Gender, Körperlichkeit und Sexualität in der frühen Adoleszenz“ sprach, beschrieb das Konzept Transgender als mögliche Prothese, um die „Verwirrtheitsangst der Adoleszenz zu überstehen“ und betonte auch die „Schwierigkeiten, in diesem erregten Feld differenziert denken zu können“.-
Stefanie Sedlacek sprach in ihrem Vortrag über „Psychoanalytische (Un-)Gewissheiten bei postmoderner Elternschaft- Invarianten und Transformationen“. Sie plädierte angesichts zahlreicher Ungewissheiten und Konflikte bei postmoderner Elternschaft für die Herstellung eines triangulierenden Raumes innerhalb der psychoanalytischen Behandlung, vielleicht zunächst als triadische Struktur in der Analytikerin, mit der sich die Patientin langfristig identifizieren könnte. Durch diese dritte Position entstehe ein Denkraum, in dem Konflikte „verdaut und begleitet werden können“.-
Harald Kamm führte in seinem Vortrag „Metamorphosen – (Un-)Gewisse Gedanken zur Geschlechtsidentität“ durch die Schilderung seiner Gegenübertragungsgefühle während einer Behandlung alle Zuhörer spürbar zum Tagungsthema der (Un-)Gewissheiten. Er beschrieb ausführlich seine Gefühle von Verstörtheit und Irritation, die er im Zuge einer analytischen Behandlung beim Anblick seines Patienten und dessen Körperbewegungen empfand. Es stellte sich nach vielen Monaten heraus, dass dieser Patient ursprünglich eine Frau war und sich einer Hormonbehandlung unterzogen hatte. Der Analytiker vermerkt seine tiefe Verunsicherung in seinem Bemühen, die Geschlechtsveränderung zu verstehen und sieht auch seine Verführung, „durch Deutungen und Kategorien das Unsichere abzuwehren“. Der analytische Prozess gelang u.a. auch durch das Aushalten der Unsicherheit („negative capability“), wodurch der Patient sein eigenes Leiden zum Thema machen konnte.
Allen (Un-)Gewissheiten zum Trotz: es war eine spannende Tagung mit vielen interessanten Themen, die zu weiterem Nachdenken anregen!
Christiane Bakhit, München, 30.5.2021