VERTRAUEN. (ODER?)

von DPG

Als Moderator spannte ich (Torsten Maul) das Thema auf: Menschen möchten vertrauen, weil sie sich sozial beziehen müssen und mit der grundsätzlichen Unberechenbarkeit ihres Gegenübers zurechtkommen müssen. Immer nur zu misstrauen würde zu einem Leben in Angst und Einsamkeit führen.

Vertrauen hält die Gesellschaft zusammen, alles was uns umgibt, soll vertrauenswürdig sein: Ärzte und Apotheker denen wir bei Krankheit vertrauen, Banken denen wir unser Geld anvertrauen, die Polizei und der Rechtsstaat, am besten auch Politiker, u.v.a. mehr. 

Vertrauen ist notwendig, ohne Vertrauen keine Sicherheit im Zusammenleben.

Andererseits:  wie soll das mit dem Vertrauen gehen, wo weltweite Bespitzelung und verdeckter Handel mit persönlichen Daten alltäglich sind, Großbanken pleite gehen, DeepFakes und KI die Wahrnehmung verunsichern, offen gelogen wird, Verträge gebrochen, Kriege angefangen werden usw.. 

Derzeit wächst das Misstrauen in der Gesellschaft. Lügenpresse ist vielleicht ein zentraler Begriff dafür, postfaktisch auch. Bei Verschwörungstheorien vertrauen manche Leute den merkwürdigsten Dingen - und weniger dem, wo es am ehesten begründet wäre: wissenschaftlichen Erkenntnissen, der gegenwärtigen Faktenlage oder ausgedehntem Erfahrungswissen.

Ungeachtet dessen beruhen viele Ordnungen in Partnerschaft, Beruf, Politik und Religion auf Vertrauen bzw. vertrauensbildenden Maßnahmen oder Vertrauen suggerierenden Beschwörungsversuchen. 

Und Psychoanalytiker beschäftigen sich natürlich auch damit, ob ihnen ihre Analysanden vertrauen. Für uns ist das Vertrauen Arbeitsgrundlage und Forschungsfeld zugleich. 

Frau Dr. Dietz, (Professorin für praktische Philosophie an der Universität Düsseldorf) führte aus philosophischer Perspektive wesentliche Unterscheidungen ein, und klärte mit interessanten Überlegungen das Feld. So verwies sie darauf, dass das Gefühl des Vertrauens zwar das Gefühl der Angst oder Unsicherheit ersetzen kann, dass aber weiterhin klar ist, dass die Kooperation mit dem anderen schief gehen kann. Überraschend, aber sehr einsehbar, war die Klärung, dass das Gegenteil von Vertrauen nicht Misstrauen ist, sondern Angst. Die Angst blockiert das zielgerichtete Handeln. Im Unterschied dazu sind Vertrauen und Misstrauen Strategien, um mit Unsicherheit zielgerichtet umzugehen. Obwohl man nicht genau wissen kann, was kommen wird, stellt man sich auf etwas Bestimmtes ein und handelt entsprechend. Der Soziologe Niklas Luhmann hat das „Reduktion von Komplexität“ genannt.  

Frau Dietz unterschied zwischen schwachem und starkem Vertrauen. Das sanktionsgestützte Vertrauen sei ein eher schwaches Vertrauenskonzept, das vor allem in anonymen sozialen Handlungszusammenhängen relevant ist. Es sei ein sich-verlassen auf bestimmte erfahrungsgestützte Verhaltensmuster, z.B. darauf, dass die allermeisten Menschen sich nicht selbst schaden wollen und Sanktionen vermeiden. Kontrollstrategien seien zwar Ausdruck von Misstrauen – aber letztendlich ermöglichen sie das soziale Vertrauen, dass die Regeln von der Mehrheit befolgt werden und es sinnvoll ist, sich daran zu halten. 

Zusammengefasst sind nach Auffassung von Frau Dietz folgende Elemente wesentlich, um von Vertrauen im starken Sinn sprechen zu können: 

  • ich kann nicht wissen, wie andere sich verhalten werden oder ob bestimmte Aussagen zutreffend sind. 
  • Abhängigkeit und Verletzbarkeit, in die ich mich mit der Entscheidung zur Kooperation begebe. 
  • Meine positive Erwartung im Hinblick auf die Bereitschaft der anderen, meine Verletzbarkeit nicht zu missbrauchen. 
  • Anerkenntnis der spezifischen Kompetenzen der anderen, die erforderlich sind. 

Um die Entscheidung zu treffen, ob ich anderen vertrauen kann oder nicht, braucht es Selbstvertrauen. Und wenn eine Vertrauensbeziehung schief geht, wird auch das Selbstvertrauen beschädigt. Insofern ist Selbstvertrauen immer involviert, wenn es um soziales Vertrauen geht. 

Nach diesem sehr anregenden 20 minütigen Statement vertrat Torsten Michels, Psychoanalytiker und Vizepräsident der Psychotherapeutenkammer Hamburg, die psychoanalytische Perspektive.

Eingehend erklärte er aus der Entwicklungspsychologie heraus die Entstehung von Vertrauen, was zu spannenden Thesen/Einsichten führte. Die Entwicklung von Vertrauen und damit die Entwicklung eines angemessenen Bildes von der Welt (und von uns selbst) geht langsam und braucht beständigen Kontakt mit der Umwelt. So ist der Zustand des Urvertrauens eher biologisch determiniert und vermutlich gibt es den gar nicht, weil es keinen paradiesischen Zustand gibt, sondern es in der Entwicklung eines Kindes immer um eine Mischung aus Befriedigung/Beruhigung und Frustration geht. Entlang der biologischen Entwicklung der Fähigkeiten entwickelt sich auch die Psyche und muss immer wieder vertraute Zustände verlassen. Fazit: bei geeignet dosierter Frustration (einem „Impfen“ mit Realität“) kann ein Zustand erreicht werden, in dem Vertrauen möglich wird und Enttäuschungen nicht zu Katastrophen werden. Vertrauen tun wir in das uns Normale - das muss nicht zwingend das Gute sein. Anders ausgedrückt: Vertrautes/Gewohntes lässt uns vertrauen - das kann auch sehr schwierige Dinge perpetuieren. 

In der Regel nehmen wir Erfahrungen als Erfahrungswissen in neue Situationen mit. Das kann man in einem positiven Sinn als Vertrauen, in negativen Überzeugungen als Misstrauen denken. Und in gewisser Weise sind psychische Krisen auch Vertrauenskrisen. Patient*innen erleben in der Regel, dass etwas nicht mehr so wie früher funktioniert, seien es der Körper, die Psyche oder Beziehungen oder alles zusammen. Die bisher vertrauten Mechanismen funktionieren nicht mehr und es kommt zu einer Krise, die in ubw. Prozessen durch Symptombildungen zu lösen versucht wird. Jede Art psychischer und körperlicher Erkrankung ist irritierend und untergräbt das Vertrauen in unsere Vorstellungen von uns selbst und unseres Funktionierens. Eine gelingende Psychotherapie bringt uns in ausreichend angemessener Weise mit unseren bisherigen Vorstellungen in Berührung, lässt sie bewusst werden und hilft, diese realitätsangemessener zu korrigieren und ein besser passenderes Bild zu entwickeln.

Danach gab es 45 Min. anregendes Gespräch mit den Gästen und nach der Veranstaltung blieben viele noch dort, und sprachen bei einem Getränk noch eine Weile weiter.

Insgesamt eine gelungene Wiederbelebung des Salonprojektes. Wir werden die Veranstaltung wiederholen (wie viele andere auch), weil es mehr Nachfrage gab als der Raum Plätze bot, und wir daher Interessent:innen abweisen mussten. (Wiederholungstermin Montag 10. Juli)

Allgemein zur Veranstaltungsreihe:

Der Salon, bei dem Psychoanalytiker, geladene Gäste und das Publikum zu aktuellen Themen der Zeit ins Gespräch kommen, findet seit November 2015 in loser Folge statt.

Der Rahmen ist mit der Theaterbar Nachtasyl so gewählt, dass nicht nur Fachpublikum angesprochen ist, sondern auch die interessierte Allgemeinheit. Das Publikum (ca. 130 Leute) ist dementsprechend heterogen, viele junge Leute, aber auch Kollegen und andere. 

Uns ist wichtig, dass wir nicht primär Psychoanalyse erklären, sondern aus psychoanalytischer Perspektive Überlegungen zu aktuellen Themen vorstellen. Dabei achten wir auf Verständlichkeit und Unterhaltsamkeit unserer Beiträge, damit sich das Publikum danach auch traut, Gedanken mitzuteilen. 

Mitursächlich für den erstaunlichen Erfolg der Veranstaltungsreihe ist auch, dass wir einen Gast einladen, der/die sich aus der Perspektive einer anderen Profession zum Thema äußert. Unsere Statements sollen je ca. 20 Minuten dauern, danach sprechen wir  ca. 45 Min. mit dem Publikum. Das geht natürlich unterschiedlich gut, aber das Publikum ist immer freundlich und meistens auch sehr klug. Die Abende sind durchaus kurzweilig, fröhlich und anregend.

Je nach Thema der Veranstaltung beginnen wir jeweils mit LiveMusik oder singen mit dem Publikum.

Die Veranstaltungen waren alle übervoll und wurden, weil wir immer Interessenten abweisen mussten, in der Regel wiederholt. 

Themen und Gäste waren bisher:

"Warum Krieg 
Gast: Hannes Heer (Historiker)

„Radikalisierung 
Gäste: Kurt Edler (Dt. Ges. f. Demokratiepädagogik), Philip Al-kazan (Lehrbeauftragter)

„Rache 
Gast: Ulrich Hentschel (Theologe)

„Befriedigendes Leben?! Erkundungen aus den Perspektiven dreier Generationen“ Gäste: Theresa Grziwok (Studentin), Wulf-Volker Lindner (Theologe/Psychoanalytiker)

„Neue/Soziale Medien“ Was macht digitale Kommunikation mit der Psyche? 
Gast: Matthias Ernst (Politologe)

"Neid, die aufrichtigste Form der Anerkennung 
Gäste: Prof. Dr. Sighard Neckel (Soziologe), Eckehard Pioch (Psychoanalytiker)

„LügeDie ganze Wahrheit ist, gelogen wird immer! 
Gast Prof. Dr. Simone Dietz (Philosophin)

„Was Sie schon immer über Psychoanalyse wissen wollten, aber nie zu fragen wagten 
Gast: Klaus Grabska (Psychoanalytiker)

"Massenpsychologie 
Gast: Prof. Dr. Simone Dietz (Philosophin)

Torsten Maul

Hamburg 21.04.2023

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