Virtuelle Berührung – zersplitterte Realität

von DPG

Jahrestagung der DPG 12.-15.5.2022 in München 

Virtualität und Realität, dieses Gegensatzpaar beschäftigt uns zunehmend. Mit dem Virtuellen meinen wir immer mehr die Eigenart der Begegnung im digitalen Raum; das Digitale stellt die Technik und das Format bereit, innerhalb derer das Subjekt seinen virtuellen und simulierten Objekten begegnet. Das Wort Realität bezeichnet im Gegensatz dazu etwas, das so ist, wie es erscheint, und das robuste Eigenschaften besitzt. Einen realen Mund kann man küssen, einen virtuellen nicht. Entwicklungspsychologisch knüpft das Virtuelle an die reine, halluzinatorische Wunscherfüllung an, gewissermaßen an das gewünschte Objekt, das aufgegeben werden muss, um die Außenwelt als fremdes und reales Objekt anzuerkennen, das berührend, aber auch frustrierend sein kann, und mit dem Veränderung möglich ist. Erst wenn das Virtuelle vom Realen getrennt wird, kann es als Raum des Möglichen genutzt werden. 

Ist es dann angemessen, Virtualität als Übergangsraum aufzufassen, in dem Berührung vorstellbar ist? Ermöglichen virtuelle Begegnungen Berührt-Sein, das real ist, indem es verändert, oder brauchen wir für die emotionale Berührung die körperliche Präsenz von Subjekt und Objekt? Aber ist die Realität so real, wie wir glauben? Müssen wir in Anbetracht aktueller gesellschaftlicher Verwerfungen und dem fortschreitenden Klimawandel realisieren, wie verändert, verletzt und gefährdet unsere Lebenswelt ist, wie sie zersplittert? Wird die Realität mit virtuellen Mitteln umdefiniert oder verleugnet, um diese Wahrnehmung zu vermeiden? 

Angesichts virtueller Verführungen und realer Probleme schwankt das Subjekt zwischen Grandiosität und Hilflosigkeit, manischer Abwehr und Angst. Geht es ihm so wie dem Freudschen Ich, dem angeblich souveränen Reiter des Pferdes von Es und Über-Ich, der am Ende doch reiten muss, wohin das Pferd will? In seiner psychischen Realität findet es sich den oft übermächtigen Kräften des Virtuellen und der äußeren Realität ausgesetzt. Damit ist die psychoanalytische Perspektive markiert, denn mit ihr kommen die Phantasien, Wünsche, Ängste, Befriedigungen, Überzeugungen und Bewältigungsmöglichkeiten des Subjekts ins Spiel. Wie kann das Subjekt sich als Akteur zwischen Virtualität und äußerer Realität behaupten, unter welchen Bedingungen wendet es sich zum Destruktiven oder zum Entwicklungsfördernden? Mit diesen Fragen wollen wir uns auf der Tagung beschäftigen. 

Zentral scheint die Frage, wie sich die virtuellen Welten im Erleben und Leiden der Einzelnen niederschlagen. Führt das Fehlen des realen Körpers und einer Sexualität, in der virtuelle Objektvorstellung und masturbatorische Selbststimulation auseinandertreten, zu einer Schwächung der objektalen Beziehung? Wie wird die Vorstellung von Sex und Gender bei Kindern und Jugendlichen beeinflusst? Ermöglicht die Cybersexualität, in fluide Genderrollen zu schlüpfen oder Perversionen auszuleben, ohne einen realen Körper als Gegenüber zu benötigen? Eine Herausforderung stellt die Virtualität für die Klinik dar. Das beginnt mit den Chancen und Grenzen der virtuellen, medial ausgeführten Therapiesitzungen. Aber vor allem werden wir mit neuen Formen der Spiel- oder Handysucht, der Beziehungsstörungen, Körperschemastörungen und des pathologischen Narzissmus konfrontiert. Kann man hier von einem neuen, 

technischen Unbewussten sprechen, das zum Beispiel eine Neubewertung der Alexithymie und der psychosomatischen Störung mit sich bringt? Nicht zuletzt stellt sich die Frage, ob die virtuelle Welt von Smartphones, Social Media und Technokultur Veränderungen oder gar eine Revision der psychoanalytischen Kulturtheorie erfordert. Und wie reagieren künstlerische Produktionen in der bildenden Kunst, im Film, im Theater oder der Literatur darauf? 

Die aktuelle mediale Revolution trifft historisch auf gewaltige ökonomische und gesellschaftliche Umbrüche. Während einige sich zu fluiden Identitäten verführen lassen, entwickeln andere eine massive Identitätsunsicherheit oder starre Abwehrformen. In der Soziologie wird zunehmend von Spaltung der Gesellschaft gesprochen. Doch was ist mit Spaltung gemeint? Geht es um die zersplitternde Realität und die Schicksale von Gewinnern und Verlierern? Oder um die emotionale phantasmatische Aufladung von Ungleichheiten wie arm und reich, gesichert und prekär, Anerkennung oder Nicht-Anerkennung? Was kann die Psychoanalyse zu dem erbitterten Hass sagen, der sich mit dem Kampf um Repräsentanz und Anerkennung verbindet? Und was zu den allgegenwärtigen Traumatisierungen? 

Handelt es sich um eine kollektive Regression auf Spaltungsprozesse, deren paranoid-schizoide Dynamik medial noch verstärkt wird? Trifft es zu, dass anstelle anerkannter Hierarchien - gesellschaftlich geteiltem Über-Ich - auseinanderdriftende Parallelgesellschaften entstehen, die eigene, voneinander abgekoppelte Entwürfe von Realität und Wahrheit vertreten? Wie kann man dann noch miteinander in Kontakt kommen und wertschätzend miteinander sprechen? Bringt die globalisierte virtuelle Welt einen Zuwachs an Freiheit oder führt sie zu ethischer Unverbindlichkeit und gesellschaftlicher Verantwortungslosigkeit? 

In Großgruppen und psychoanalytischen Institutionen werden derartige Prozesse seit Jahrzehnten beobachtet und untersucht. Was können Konzepte aus Gruppenanalyse und Organisationsentwicklung zur Aufklärung zersplitternder Realitäten beitragen? Welche Erfahrungen wurden bei Versuchen gemacht, psychoanalytische Konfliktlösungen für die Bearbeitung von Problemen innerhalb eigener Gesellschaften und Institute einzusetzen? Sprechen wir vielleicht zu schnell von Spaltung, wo es um Differenzierung und den Umgang mit Unterschieden geht, die wir schlecht ertragen? 

Viele Fragen, die unser Tagungsthema aufwirft, und hoffentlich auch viele Anregungen, sich produktiv damit auseinanderzusetzen! Wenn Sie einen Beitrag anbieten wollen, senden Sie bitte bis zum 10.09.2021 ein Abstract an Dr. Christiane Schleidt (cschleidt@gmx.net). 

Ausbildungskandidatinnen und Ausbildungskandidaten der DPG möchten wir herzlich einladen, sich um den mit 2000.- Euro dotierten Gaetano Benedetti Preis 2022 für die beste eingereichte wissenschaftliche Arbeit zu bewerben. Für diese Arbeit wird im Nachmittagsprogramm der Tagung ein Vortragsplatz reserviert. Bitte entnehmen Sie weitere Informationen hierzu der DPG-Homepage. 

Wir freuen uns auf Ihre Beiträge! 

Klaus Grabska                                   Falk Stakelbeck 

Vorsitzender der DPG                        Leiter der Vorbereitungsgruppe 

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