Zoommeeting Shmuel Erlich und Mira Erlich-Ginor

von DPG

„We want a leader with honest visions, the politics of polarization must end“ (Yair Lapid)

„I was asked: “Do you have a word for that, what happend??!! Tell me!!“ It was a heartbreaking conversation. Every word is not specific enough to convey the shock“ (Mira Erlich-Ginor)

Zoom-Meeting am 5.November 2023 mit den Psychoanalytikern Shmuel Erlich und Mira Erlich-Ginor (Jerusalem) und dem Oppositionsführer Yair Lapid zur Situation in Israel und in Gaza nach den Massakern der Hamas am 7.Oktober 2023

Es war ein sehr bewegendes und informatives Zoom-Meeting, zu dem Shmuel Erlich und Mira Erlich-Ginor alle Freunde und Kolleginnen und Kollegen eingeladen haben, denen sie sich verbunden fühlen und die mit ihnen nach den Massakern der Hamas in Israel am 7. Oktober Kontakt aufgenommen haben: ca 70 Teilnehmer aus Israel,  Deutschland, Großbritannien, Italien, Frankreich, den USA und Südamerika. Kolleginnen und Kollegen der DPV (Deutsche Psychoanalytische Vereinigung) und der DPG (Deutsche Psychoanalytische Gesellschaft) waren dankbar für dieses Zusammenkommen, da eine bereits vorbereitete Ehrung für Shmuel Erlich am 11.11.2023 in seiner Geburtsstadt Frankfurt wegen des Kriegs in Israel abgesagt werden musste. Eingeladen war auch der israelische Oppositionsführer Yair Lapid  - Gründer der Yesh-Atid-Partei und 2022 mehrere Monate Ministerpräsident – , der über die aktuellen militärisch – politischen Ereignisse berichtete. Shmuel Erlich und und Mira Erlich-Ginor hatten vorab einen Bericht („How we are“) über ihre Situation in Jerusalem verschickt sowie einen Podcast mit einem Interview, in dem die Psychoanalytikerin Merav Roth und Mira Erlich-Ginor über die traumatische Situation in Israel und über Gespräche mit einigen Angehörigen der 241 verschleppten Geiseln berichten. 

Shmuel Erlich eröffnete das Meeting mit einem sehr herzlichen Dank an alle für ihre Anteilnahme an den schrecklichen, traumatisierenden Ereignissen der letzten Wochen. Jeder Brief, jede Nachricht helfe, die Katastrophe irgendwie zu überleben. Er äußerte große Besorgnis über das Leben der 241 Geiseln, über eine mögliche weitere Eskalation in Israel, in Gaza  und im Westjordanland und über den weltweit zu beobachtenden sich verstärkenden Antisemitismus. Er sprach darüber, wie es ist, mit den Patienten täglich zu arbeiten in einer Situation, in der beide in einem Boot sitzen und jederzeit Raketenalarm  - wie auch jetzt unser meeting - das Zusammensein abrupt unterbrechen kann. Mira Erlich-Ginor schloss an mit der Erzählung über verzweifelte  Gespräche mit Angehörigen der verschleppten Geiseln und Kibbuzmitgliedern im Süden Israels. Eine „heartbreaking conversation“ hatte sie z.B. mit einem Mann, der sie völlig verzweifelt und außer sich fragte: „Hast Du einen Namen, ein Wort für das alles, was passiert ist? Sag mir das Wort!!“ Doch alle Wörter sind nicht in der Lage , das Desaster, die Katastrophe, den Albtraum auch nur annähernd zu beschreiben. Sie schildert, wie es fast unmöglich erscheint, überhaupt zu sprechen, Worte zu finden und sich dann natürlich doch ein Gespräch entwickelt, entwickeln muss zwischen den Helfern (die auch traumatisiert sind) und den schlimm Traumatisierten, die einen, mehrere  Angehörige oder ihr Haus, ihre Wohnung verloren haben. Üblicherweise retten wir uns in unser zu Hause, wenn physische Gefahr droht, doch diese Menschen haben diesen Schutz nicht, sie leben in Hotels, in Notunterkünften: „It is a really radical situation“.

Die Unmöglichkeit, im Trauma überhaupt Worte zu finden und dennoch zu sprechen, war eine zentrale, manchmal sogar etwas tröstliche Vergewisserung in der Diskussion: die uns Psychoanalytikern vertraute Dichotomie, in extrem traumatisierenden Situationen ohnmächtig und hilflos zu sein und für das Katastrophische keine Worte zu haben, und dennoch zu wissen, wie entscheidend es ist, nach Worten zu suchen, überhaupt zu sprechen, so gut es geht, und Verbindung zu halten, Verbindung zu den anderen Menschen und zu unseren guten inneren Objekten. Einige Israelis beschrieben einen überwiegend (manchmal ausschließlich) körperlich spürbaren Kampf zwischen vollständiger Hoffnungslosigkeit und Panik einerseits und Überlebenwollen und brachten diesen Zustand in Verbindung mit dem Konzept des Kampfs zwischen Lebens- und Todestrieb. Mira Erlich-Ginor beschrieb die Notwendigkeit, „to move instantly, to react, being präsent, beeing aktiv and listening“. Mirav Roth hob hervor, dass sie und andere Therapeuten, die helfen, sofort - sehr nachvollziehbar -, zu rettenden, guten Objekten werden, weil sie das Trauma anerkennen und zuhören. Mira Erlich-Ginor sprach darüber, dass nach dem ersten Schock inzwischen eine tiefe Traurigkeit zu spüren ist darüber, dass das Leben in Israel auf dem Spiel steht. „Doch wir wollen hier leben, wir müssen hier leben, wir haben nur Israel“. Alle fragen sich im Moment, wie wir unseren Kindern überhaupt eine Zukunft geben können in diesem Land. Und überall ist das gerade in Israel sehr oft erfahrene Mantra zu hören: “Nichts wird wieder so sein wie es einmal war.“

Yair Lapid zentriert in seinem Bericht zunächst auf das völlige Versagen der politischen Führung und derer Sicherheitsdienste und vergleicht den 7. Oktober mit den Novemberpogromen der Nationalsozialisten am 9. November 1938 und dem islamistischen Terrorangriff 9/11 in New York.  Es sei eine „bitter diagnosis “, dass ein „lack of leadership“zu dieser Katastrophe geführt hat, die Hamas haben mit ihrem Terrorangriff eine bereits geschwächte Nation getroffen. Eine jahrelange, sehr aktive oppositionelle Bewegung aus vielen politischen und gesellschaftlichen Bereichen habe die autoritäre, gefährliche zionistische Rechtsruck-Politik Netanjahus der letzten Jahre nicht verhindern können. Dennoch gab es in der überwiegenden Mehrheit der Israelis eine annähernde  Gewissheit, dass Israel das, was jetzt passiert ist, niemals passieren würde, ein völliges Versagen des Militärs,  der Sicherheitskräfte und der Geheimdienste. Alle fragen sich: „Wir konnte das passieren???!!!!“  Yair Lapid betont mehrmals, dass das Land schon lange vor dem 7.Oktober ein geschwächtes, zerrissenes Land war, die Regierung Netanjahu habe total versagt. Doch nun müsse Israel Krieg führen und sich verteidigen und  die Hamas unwirksam machen, ein solcher Terrorakt darf sich nicht wiederholen. Doch danach brauche Israel eine kluge, kreative Führung: „We want a leader with honest visions, the politics of polarization must end.“ Israel müsse zu einer Politik zurückkehren, in der wir zuhören und nicht polarisieren. Und er riet eindringlich, alle Informationen der internationalen Presse und der sozialen Netzwerke zu prüfen. Die Hamas habe sofort – ihrem „binary thinking“ folgend“- die schreckliche Nachricht über einen Raketenangriff auf ein Krankenhaus in Gaza dazu verwandt, das israelische Militär zu beschuldigen. Doch es sei klar erwiesen, dass es sich um eine fehlgeleitete Rakete der Hamas gehandelt habe. Man müsse immer wieder auf den Fakten beharren und „stonefaced“ antworten: “We only killed soldiers.“

In der Diskussion gab es auch einen Austausch über die verschiedenen, meist gefährlich polarisierenden  Debatten über das Massaker der Hamas und die militärischen Reaktionen Israels in Gaza mit allen schrecklichen Folgen für die Palästinenser. Es war interessant, wie unterschiedlich sich in den jeweiligen Ländern die Polarisierungen und politische Einschätzungen gestalten. Einige, besonders israelische Teilnehmer beobachten eine weltweite eher zurückhaltende Solidarität  mit Israel, von „coldness“ und „lack of sympathy“ ist die Rede. Vielleicht habe - so eine deutsche Teilnehmerin - diese Zurückhaltung neben dem weltweit zunehmenden Antisemitismus mit der erwähnten Sprachlosigkeit zu tun, die sich angesichts plötzlich einbrechender Massaker zunächst einmal einstellt. Einige Deutsche äußerten sich besorgt über die Verschärfung der emotional aufgeladenen Auseinandersetzung zwischen „pro-palästinensischen“ und „Pro-Israel“-Demonstrationen, in denen es zu Gewalt kommt und z.B.  Israel-Fahnen verbrannt werden. Anerkennend erwähnt wurde hingegen von mehreren, auch nicht-deutschen Teilnehmern die Rede von Robert Habeck, der das „beide-Seiten-Argument“ - da die Hamas eine Terrororganisation sei mit dem Ziel, Israel zu vernichten - als „in die Irre-führend“ bezeichnet (Habeck) und gleichzeitig die beiden unterschiedliche Perspektiven, die derzeit in Deutschland oft erschreckend polarisierend gegeneinander stehen, in Verbindung setzt, sie aber auch gewichtet, indem er auf unsere Verantwortung als Deutsche zentriert, ohne das Leiden der Palästinenser aus dem Blick zu verlieren.

Gegen Ende gab Rosine Perelberg einen Hinweis auf eine „International Study Group on Antisemitism“, deren Chair sie ist. Diese Gruppe hat einen Blog mit verschiedenen Literaturhinweisen und Reden – so auch die von Habeck – eingerichtet. Am Ende der knapp 2 Stunden dankten einige Teilnehmer und Teilnehmerinnen Shmuel Erlich und Mira Erlich-Ginor für diese beeindruckende Initiative, die sie in einer so katastrophalen Situation gewagt haben. Es war im Rückblick eine gleichermaßen emotional-intensive und nachdenkende, besonnene Diskussion, die einen der früheren Präsidenten der  IPV („Internationale Psychoanalytische Vereinigung“), Claudio Eizirik, zu den Worten veranlasste: „ Thank you, it´s bringing hope“.

Ursula Kreuzer-Haustein
Göttingen, 14.November 2023

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