Bild links: Sarit Kreutzer (Ausbildungskandidatin DPG), Bild rechts: Sarit Kreutzer, Ingo Focke, Franz Oberlehner

 

Sarit Kreutzer, eine Kandidatin der DPG, über ihre erste DIPSAT-Tagung.

Vor drei Wochen erlebte ich als Ko-Referentin meine erste DIPSAT Tagung. DIPSAT ist die Tagung der deutschsprachigen psychoanalytischen Gesellschaften der IPV. Sie wurde in diesem Jahr vom  Wiener Arbeitskreis für Psychoanalyse organisiert und fand zum Thema "Phantasien der Gegenwart" statt. 

Nachdem ich gefragt wurde, einen Erfahrungsbericht dazu zu schreiben, fiel es mir sehr schwer, Worte dafür zu finden, denn diese Tagung war für mich eine hochemotionale Erfahrung, und es brauchte Zeit, um diese Erfahrungen beschreiben und erklären zu können. 

Ich fragte mich, ob es an Freuds Wien lag, das in der Tagung so lebendig für mich wurde, das mich so berührte. Am ersten Abend eröffnete Herr Lackinger aus dem Wiener Arbeitskreis für Psychoanalyse,die Tagung. Er erzählte, dass Freud seinen ersten Vortrag über die Hysterie im gleichen Gebäude hielt. Das Rahmenprogramm bot auch eine Führung durch Freuds Museum und durch Freuds Wien an. Freuds Museum in der Berggasse 19 war nur zwei Straßen entfernt. Aber die Reise, die mich so bewegte, war die Reise in das Phantasieren. 

Das Besondere an der Dipsat ist, dass die Ko Referenten das Hauptreferat lange vor der Tagung bekommen und so Zeit haben ihre eigenen Phantasien und Gedanken zum Thema des Hauptreferats zu entwickeln. So entstanden sehr berührende Ko-Referate, die kritische und wichtige Fragen zu den Themen der Hauptvortagen ansprachen. Frau Rössler-Schülein aus Wien sprach über das Phantasieren im analytischen Prozess. Dazu stellte Frau Michel, eine Kandidatin der DPV, einen Fall vor, in dem das Phantasieren nicht gelang. Herr Döser aus der DPV sprach über Ängste, die mit der technologischen Entwicklung verbunden sind. Dazu beschrieb Frau Polo aus der Schweiz in ihrem Ko-Referat ein „science fiction“ Szenario, in dem die Hauptperson seinen Ängsten ausgeliefert ist und eine Katastrophe entsteht. Herr Grabska aus der DPG fragte in seinem Vortrag, ob wir unsere analytische therapeutische Haltung, auch wenn es um Terroristen geht, halten können. Er fragte, ob wir unsere Professionalität halten können, auch wenn wir mit den schlimmsten Vernichtungsängsten und mit so viel Gewalt konfrontiert sind. Herr Kunstreich, ein Kandidat aus der WPV, erzählte in seinem Ko-Referat von einem Attentäter, der die therapeutischen Hilfsangebote nicht nutzen konnte, was zu einer starken Hilflosigkeit der Behandelnden führte. Herr Barth aus der Schweiz stellte eine schwere Behandlung mit einem suizid-gefährdeten Adoleszenten vor. Er redete über Probehandeln und Simulieren und über die Rolle des Computerspielens. Frau Jekat aus der WAP sprach in ihrem Ko-Referat über unterschiedliche sensorische Kanäle und ihre Bedeutung in der therapeutischen Arbeit unserer Zeit. Im letzten Vortrag stellte Herr Oberlehner aus Wien neue Begriffe vor: „Normalperversion“ und „Normalpsychose“, und seine Sicht, dass die Psychopathologie sich angesichts des immensen technologischen Entwicklung ändert. Zuallerletzt, vertrat ich in meinem Ko-Referat meine Überzeugung, dass wir trotz der Perfektionierung unserer Prothesengötter den „facts of life“ (Tatsachen des Lebens, nach Money-Kyrle) weiter ausgeliefert sind.

Auch die Supervisionsgruppe, an der ich teilnahm, bot mir die Gelegenheit zum Austausch mit Kandidaten und Analytikern, die in einem anderen Land, in einem anderen „Behandlungssystem“ arbeiten. Auch dort entstanden für mich Fragen über das, was ich in unserem Kassensystem als selbstverständlich erlebe und auch über die Einschränkungen, die dabei entstehen. Aber es ging nicht nur um „facts“.  Es ging um Erfahrungen. 

Meine Reise nach Wien war eine Reise, die das Reflektieren und Nachdenken über viele wichtige Themen, die meine analytische Haltung und Weltsicht betreffen, anregte. 

Ich glaube, dass die Struktur der Tagung es ermöglichte, mit Vorträgen und Ko-Vorträgen eine tiefgründige Diskussion anzubieten, um sich wichtige, bedeutungsvolle Fragen stellen zu können. 

Ich bin nach Wien gefahren, um von „Phantasien der Gegenwart“ zu hören und darüber zu sprechen, konnte aber immer wieder unbekannten Bereiche meiner Phantasien entdecken.

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Bericht von Klaus Grabska zur DIPSAT

Die alle 2 Jahre stattfindende  siebte Deutschsprachige internationale psychoanalytische Tagung (DIPSAT)  fand in diesem Jahr vom 13. – 16. Oktober zum Thema „Phantasien der Gegenwart“  im bezaubernd herbstlichen Wien statt und bot bereichernde und anregende Diskussionen mit Kolleginnen und Kollegen sowie Ausbildungsteilnehmerinnen und Ausbildungsteilnehmern aus Österreich, der Schweiz und Deutschland. Einerseits hatte die deutsche Sprache etwas Verbindendes, schuf ein Gefühl kollegialer Gemeinschaft und eine vermeintlich sichere Basis für den Austausch untereinander. Andererseits kam durch die verschiedenen ‚analytischen’ Dialekte auch eine Vielfalt ins Spiel, in der sich Fremd- und Vertrautheit mischte, Verwirrungen entstanden und das Bedürfnis nach Klärungen das kollegiale Gespräch miteinander intensivierte.  

Der Wiener Arbeitskreis für Psychoanalyse unter dem Vorsitz von Fritz Lackinger hatte sich in Absprache mit den anderen vier deutschsprachigen Gesellschaften getraut, mit den „Phantasien der Gegenwart“ über das Klinische hinauszugehen und die weitgespannte Frage zu diskutieren, welche unbewussten Phantasien sich in einigen aktuellen soziokulturellen Phänomenen entdecken lassen und wie psychoanalytisches Denken für das Verständnis gesellschaftlich brisanter Phänomene fruchtbar gemacht werden kann.

Dabei stand das klinische Denken am Anfang der Tagung. Hemma Rössler-Schülein von der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung (WPV) stellte in ihrem fundierten Vortrag zum „Phantasieren im psychoanalytischen Prozess“ unterschiedliche Konzeptionen der unbewussten Phantasie und ihrer Bedeutung für den analytischen Prozess dar. Dabei vermittelte sich mir deutlich, welches konzeptionelle Spannungsverhältnis an Offenem und Ungeklärten der Analytiker in seiner klinischen Arbeit alltäglich tolerieren muss, gerade, wenn es um unbewusster Phantasien geht. 

Danach folgten am Freitag der Vortrag von Johannes Döser von der Deutschen Psychoanalytischen Vereinigung (DPV), der in seinem Gedanken- und Facettenreichtum und der Diversität von möglichen assoziativen Verbindungen etwas von seinem Thema der „Cloud“ als einer neuen gesellschaftlichen Metapher wiederspiegelte. Er spürte in diesem Vortrag den zahlreichen, vorwiegend narzisstischen Phantasmen nach, die sich mit der Cloud-Metapher verbinden und unsere Realitätswahrnehmungen und -vorstellungen tiefgreifend verändern können.

Leider konnte ich an dem nachtäglichen Rahmenprogramm nicht teilnehmen, hörte aber, dass der Spaziergang durch Freuds Wien, der an die historischen Stätten seiner Kindheit führte, ganz besonders gelungen gewesen sein sollte. Gleichzeitig wurde ein Besuch im Freud-Museum angeboten.

Der Freitag schloss abends mit einem öffentlichen Vortrag der Schriftstellerin Renate Welsh ab, in der sie auf eine emotional sehr bewegende Weise  und der Liebe zur wahrhaftigen Sprache von ihren persönlichen Erfahrungen berichtete, die sie in von ihr initiierten Schreibwerkstätten mit Kindern und Obdachlosen machte, eine unvergessliche Erfahrung.

Den Samstag habe ich als Vertreter der Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft (DPG) mit einem Vortrag zu aktuellen Verbindung von Hass- und Gewaltphantasien  und ihrem Umschlag in Terror-Handlungen eröffnet, und zwar, am Beispiel von Anders Breivik.   

Am Samstagnachmittag sprach Daniel Barth von der Schweizer Gesellschaft für Psychoanalyse (SGPsa) zur „Gefahr der Simulation“. Anschaulich, aber auch mit etwas abstrakten Gedanken zu einer Erweiterung der Freudschen Traumtheorie verbunden schilderte er, wie sich der Raum des Internets einerseits als eine Art virtuelles Simulationsuniversum für Probehandeln im Sinne Freuds verstehen lässt, anderseits aber auch die Gefahr beinhaltet, die Simulation und das in ihr geschaffene virtuelle Universum für die Realität zu halten und sich darin zu verlieren. Berührend war seine darauf bezogene Falldarstellung der analytisch-therapeutischen Arbeit mit einem autistisch-schizoiden Jugendlichen.

Mit dem abschließenden Vortrag am Sonntagvormittag zum modernen Menschen als „Prothesengott 2.0“ enfaltete Franz Oberlehner vom Wiener Arbeitskreis für Psychoanalyse (WAK)  die These, dass wir uns durch die technologische Hochrüstung einerseits den grundlegenden Realitäten nicht mehr so ausgeliefert fühlen. Andererseits fördert die technologische Hochrüstung des Menschen sowohl perverse Verleugnungen der Geschlechterrealität und des Generationsunterschiedes als auch „normalpsychotische“ Verschmelzungen mit der Techno-Prothese, die wir nicht mehr durchschauen. Am Ende wissen wir nicht mehr, ob wir über das I-Phone verfügen oder das I-Phone über uns und wer das Anhängsel von wem ist.  

Die Tagung zeigte, wie sich in der Psychoanalyse eine klinische, eine kulturtheoretische und eine sozialpsychologische Perspektive zu einem inspirierenden analytischen Diskurs verbinden lassen. Auch die hervorragenden Ko-Vorträge seitens der Ausbildungskandidaten der Gesellschaften –das spezifische Format dieser Tagung -  trug dazu bei. Wenn man Sabine Michel (DPV), Alba Polo (SGPsa), Tjark Kunstreich (WPV), Friederike Jekat (WAP) und Sarit Kreutzer (DPG) zuhörte, dann hörte man schon die zukünftigen Kolleginnen und Kollegen sprechen, auf die man sich schon jetzt freuen kann. 

Auch das Angebot der nachmittäglichen Supervisionsgruppen wurde von vielen Kandidaten und Psychoanalytikern genutzt. Diese Gruppen werden von erfahrenen Analytikerinnen und Analytikern der deutschsprachigen Gesellschaften geleitet und bieten aufgrund ihrer gemischten Zusammensetzung eine weitere Möglichkeit des vertieften analytischen Austausches und des Kennenlernens unterschiedlicher ‚analytischer Dialekte’. Ich selbst habe eine Supervisionsgruppe geleitet und war von der lebendigen Falldiskussion beeindruckt.

Die nächste Dipsat wird von unserer Gesellschaft vom 18. - 21. Oktober 2018 in Berlin ausgerichtet. Der vorläufige Arbeitstitel lautet: „Idealbildung und Schuldgefühl – zum analytischen Über-Ich“. 

Klaus Grabska 

Hamburg, den 28. 10. 2016

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