v. l. n. r.: Leila Beka Focke, Georges-Arthur Goldschmidt, Wulf-Volker Lindner

Sigmund – Freud – Kulturpreis 2015

der Deutschen Psychoanalytischen Vereinigung DPV und der Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft DPG

an Georges – Arthur Goldschmidt / Paris

Vorstellung des Preisträgers

Guten Abend Herr Goldschmidt,

Bonsoir Madame, malheureusement nous allons parler en allemand la plupart du temps, mais Monsieur s’occupera certainement de la traduction.

Guten Abend, meine Damen und Herren,

geboren wurde unser Preisträger 1928 in Reinbek bei Hamburg als Jürgen-Arthur Gold­schmidt. Er Ist getaufter Protestant in der dritten Generation, “ein liegender getaufter Christ“, so haben Sie es uns mit einem ironischen Verweis auf die Nürnberger Rassegesetze erzählt und es bedeutet, dass Sie im Liegen, also schon als Baby getauft wurden, im Unter­schied zu Erwachsenen, die im Stehen getauft werden.

1933 beginnt die Verfolgung Ihrer Familie durch die Nazis. Ihr Vater, Dr. jur. Arthur Gold­schmidt, verliert als Oberlandesgerichtsrat seine Arbeit am Landgericht. 1935 etablieren die Nationalsozialisten mit den Nürnberger Rassegesetzen ihre antisemitische Ideologie. Die Ausgrenzung beginnt. Auch die Kirchengemeinde schützt sie dagegen nicht. Im Gegenteil: Der Reinbeker Pastor macht mit. Der kleine Georges-Arthur Goldschmidt darf nicht mehr in den Kindergottesdienst.

1938 beschließt der Vater, die beiden Söhne zuerst nach Italien, später dann nach Savoyen zu schicken, wo sie versteckt und schließlich unter ständiger Gefahr überleben. Ihr Buch „Über die Flüsse“ beschreibt diese Periode.

Was dann geschah, erfuhren Sie erst im französischen Kinderheim und nach 1945: 1942 wurden alle „nichtarischen“ Christen aus der schleswig-holsteinischen Landeskirche aus­geschlossen. Darum wird Ihrer Mutter, die im Juni 1942 verstirbt, die kirchliche Beerdigung verweigert. Im Juli 1942 wird Ihr Vater ins Konzentrationslager nach Theresienstadt ver­schleppt. Aus einem Andachtskreis Hamburger Deportierter entsteht um ihn, den Lektor, nach und nach eine evangelische Gemeinde. Er wurde ihr Pastor. Vater überlebt das Kon­zentrationslager und kehrt zurück. 1947 stirbt er in Reinbek

Sie, lieber Herr Goldschmidt, bleiben nach der Befreiung in Frankreich und arbeiten als Deutschlehrer, Essayist, Schriftsteller und Übersetzer von Goethe, Kafka und Handke. Ihre Veröffentlichungen sind zahlreich. Wir haben Glück, dass Sie sich das Interesse und die Liebe zur deutschen Sprache bewahrt haben, wir hätten keinen besseren Übermittler und Erklärer der deutschen Sprache haben können. Sie machen uns die deutsche Sprache liebenswert und sie zeigen uns erst, wie die deutsche Sprache spricht. Denn Deutsch ist sowohl die Sprache der Psychoanalyse als auch der Nazis.

Zwischen, der Ort seiner Existenz

Zwischen dem Deutschen und Französischen lebt und arbeitet Georges- Arthur Goldschmidt. Überhaupt scheint das Zwischen der Ort seiner Existenz zu sein.

In seinen autobiographischen Erzählungen hat er diese Existenz beschrieben und ausge­drückt, „was man schon lange in sich trug, … wenn auch nur im Anflug, im Vorbeiziehen die ‚kleinen Gedanken’, die Phanstasieschwaden, die man in sich trägt.“ (214, S. 7) Schon ihre Titel weisen darauf hin: „Die Absonderung“, „Die Aussetzung“, „Über die Flüsse“, „Ein Wie­derkommen“, „Der Ausweg“. Sie beschreiben ein „weg von“, ein „von hier nach da“, Ver­suche eines „zurück zu“, schmerzliche Trennungen, Lebensbedrohung und keine Heimkehr.

Was Georges-Arthur Goldschmidt in den Räumen zwischen Deutsch und Französisch ent­deckt hat, ist uns beim Lesen der Bücher „Als Freud das Meer sah“ und „Freud wartet auf das Wort“ aufgegangen: Wie man manchmal zwischen den Sprachen „zappelt“ und wie unmöglich es sein kann, das, was die eine Sprache sagt, in die andere zu übersetzen. Es ist, als wolle man einen Körper seines Körpers entkleiden. (2008, S. 26,29) Aber dabei ist auch zu entdecken, wie das Nachdenken im Zwischenraum der Sprachen erst erschließt, wie die eine und wie die andere Sprache spricht, wie ähnlich und wie unterschiedlich ihre Wortvor­stell­ungen sein können und was die Sprachen sprechend verschweigen und verschweigend zum Ausdruck bringen.

Hier entdeckt Georges-Arthur Goldschmidt auch die Bedeutung der Psychoanalyse. „Das gesamte Freudsche Unterfangen… bestand darin, die Sprache zum Reden zu bringen und dem, was sie zu sagen hat, seine Aufmerksamkeit zuzuwenden.“ (1999, S. 24)

Es war Anfang der 1950er Jahre. Georges-Arthur Goldschmidt verbrachte einige gemeinsame Nachmittage mit französischen Psychoanalytikern. Man wollte, nachdem auch in Frankreich die Psychoanalyse während des II. Weltkriegs weitgehend zu existieren aufgehört hatte, wieder zu ihren Wurzeln zurück und traf sich, um Sigmund Freuds schmale, aber gewichtige Schrift „Die Verneinung“ (1925) ins Französische zu übersetzen. Dieser Versuch scheiterte, nicht nur weil der Kreis zu groß war und seine Mitglieder zu unterschiedliche Auffassungen hatten. Man scheint schon bei der Übersetzung eines zentralen Begriffs der Psychoanalyse “Trieb“ / „pulsion“ Probleme bekommen zu haben. In der Schrift ‚Die Verneinung’ geht es gerade darum zu verstehen, warum das Unbewußte nur über Abwehr und Widerstand in entstellter Form bewusst werden kann. (1925, GW XIV)

So brachte Georges-Arthur Goldschmidt in Erfahrung, wie sich das Psychoanalytische aus­schließlich auf seinem Weg zwischen den Worten manifestiert. (2006, S. 106) Später for­muliert er: „Freud ist der Übersetzer par excellence, da seine ganze Arbeit auf das Sichtbar­machen dessen gerichtet ist, was sich der Sprache entzieht oder ihr Widerstand leistet, was nicht durchkommt und sie eben dadurch als Sprache kennzeichnet….

In diesen Zwischen­räumen, in den Zonen zwischen den Wörtern setzt Freuds Arbeit an, und ohne diesen Ansatz wäre sein Text bloß ‚wissenschaftlich’ und sterbenslangweilig. Wenn der Sinn im Wort festsitzt, ist die Welt zu Ende, und dem entkommen die Sprachen, weil sie nur die ‚Finten’ des Sprechens sind.“ (2006, S. 157f., 160)

Und manchmal bricht die Oberfläche zwischen den Sprachen auf, wie in einer geothermi­schen Zone, und lässt Erinnerungen hindurch, mit denen man sich auseinandersetzen muss.

Doppelte Übersetzungsarbeit

Die Notwendigkeit, für das eigene Schicksal Worte zu finden:

  • in Sicherheit gebracht, aber weggegeben, vielleicht sogar als Strafe für nicht zu unterdrückende kindliche Triebhaftigkeit,
  • von Fremden beschützt, aber weiterhin durch triebunterdrückende Erziehung und Strafrituale bedroht,

führt zur Entdeckung, dass beim Worte ’finden’ eine doppelte Übersetzungsarbeit geleistet werden muss: horizontal zwischen Deutsch und Französisch und vertikal zwischen dem noch Sprachlosen und den Wörtern.

Georges-Arthur Goldschmidt beschreibt die Seele wie ein Meer. „Wenn man Freud liest, könnte man meinen, das Unbewußte sei so beschaffen wie das Meer. Es scheint um eine Senkrechte organisiert zu sein, das Unbewußte, immer tiefer in den Seelenraum abzusinken, während ständig etwas aus der Tiefe aufsteigt … (1988, S. 47). Wir sehen die Oberfläche, vielleicht noch einige Meter unter Wasser, aber die rätselhaften, unendlich unterschied­lichen Tiere, Pflanzen und Gebilde, die sich in der Tiefe befinden, können wir nicht sehen.  Am Strand finden wir Abkömmlinge dieses Unterwasserleben. Eigentlich, so haben Sie uns verraten, hätten Sie das Buch gerne ‚Freuds Spaziergang am Strand’ betitelt.

Kreativ im Zwischenraum

Auf die Frage, wie es kam, dass Sie so gut Deutsch können, wie Sie die Sprache bewahren konnten, haben Sie etwas empört geantwortet: „Aber Deutsch ist meine Muttersprache.“ Um dann zu erläutern, dass Sie denken, ein deutsches Kind könne seine Muttersprache mit 10 Jahren vollständig beherrschen, ein französisches Kind dagegen nicht.

Die deutsche Sprache sei für ein Kind aus sich selbst heraus wegen ihrer Durchsichtigkeit, ihrer Anschaulichkeit und der vielen zusammengesetzten Worte leichter zu verstehen und zu handhaben als das Französische, das sich vieler Lehnworte aus dem Griechischen und Latei­nischen bedient.

“Im Deutschen herrscht eine Art Urwüchsigkeit, die Sprache wächst aus sich selbst heraus und lässt gewissermaßen ständig ihre linguistische Kindheit wieder aufleben. Man sieht das an den zusammengesetzten Wörtern.... Sie sind jedermann unmittelbar verständlich. Wer außer Hellenisten oder Botanikern wüsste denn, was eine allophile Pflanze ist, das Deutsche nennt sie einfach eine salzliebende Pflanze. Von sich selbst ausgehend baut das deutsche Kind seine zusammengesetzten Wörter überaus und allgemein verständlich.... Die Sprache selbst weist so jedem deutschen Kind den Weg. Es wäre müßig, alle französischen Wörter mit lateinischen oder griechischen Wurzeln (oder beidem) aufzuzählen, für die das Deutsche stets eine konkrete Wurzel bereithält. Die Geographie ist im Deutschen die Erdkunde: Ohne weiteres versteht jeder gleich, worum es geht.“ (1999, S. 22f.)

Sie haben uns vor drei Jahren hier in Berlin erläutert, wie zentral im Deutschen das Verb STEHEN ist. Es drückt so viel Verschiedenes nur mit seinen Präfixen aus, eine deutsche Spezialität.

Im Französischen haben die Verben vielerlei Bedeutungen, je nach Kontext, in dem man sie benutzt, und je nach ihrer Verbindung mit einem anderen Wort.

Hier ein paar Beispiele:

stehen - être debout
ein Auto steht - être garer
unter Einfluss stehen - être sous influence
unter Schock stehen - être sous le choc
zu jemandem stehen - soutenir quelqu‘un
zu einer Meinung stehen - maintenir une affirmation
Wie steht es? - comment ça va
untersteh dich - avoir audace de faire
essaie un peu pour voir
pour qui vous prenez vous?
überstehen - surmonter
dépasser
widerstehen - résister
verstehen - comprendre

Sie wenden diese linguistischen Überlegungen darauf an, wie Freud Psychoanalyse zur Sprache bringt. Nehmen wir als Beispiel den Begriff ‚Trieb’.

„Alles fürs Bewusstsein Verdrängte und Ersetzte bleibt im Unbewussten erhalten und wirkungsfähig“, schreibt Freud in einem seiner kühnen Texte.“ So zitieren Sie ihn. (1999,S. 66) Das Zitat stammt aus dem Text  ‚Ein Kind wird geschlagen’ (1919, GW XII, S. 221) Und dann fahren Sie fort: „Man könnte sich fragen, ob nicht das gesamte Freudsche Werk in vieler Hinsicht auf dem Wechselspiel zwischen unten und oben, den Gezeiten und Ström­ungen beruht, denn alles , was verdrängt war, wird wieder emporgetrieben, es driftet nach oben, um wieder aufzutauchen.“

Es wird Treibgut. Treiben, so führen Sie aus, ist ein kraftvolles Wort, dessen Bedeutung im Deutschen Wörterbuch von Wahrig mit „in schnelle Bewegung bringen, vor sich herjagen“ umschrieben wird. Daher stammt das Wort der Trieb.

„Trieb… wird im Französischen mit pulsion übersetzt, aber Trieb ist im Gegensatz zu pulsion ein so alltägliches Wort, dass es im Sprachschatz jedes achtjährigen Kindes zu finden ist, das, wenn es sich in der Hitze eines  Sommertags auf sein Eis am Stiel stürzt, es zerbricht und zu Boden fallen lässt, zu hören bekommt :“Jeder ist das Opfer seiner Triebe…. All dies hatte Freud immer auf der Zunge – und auf der Spitze seiner Feder, sobald er das Wort Trieb gebrauchte. Er musste, wie man sieht, gar nichts erfinden.“ (1999, S. 67)

In diesem Zusammenhang machen Sie, lieber Herr Goldschmidt, deutlich, dass Sie ein über­zeugter Freudianer sind, weil sie seinen zentralen Gedanken aufgreifen, dass wir es mit psy­chischen Repräsentanzen zu tun haben, die Abkömmlinge des Triebhaften sind, das seine Quelle im Körperlichen hat.

Gibt es eine Grundsprache?

Mehrfach nehmen Sie Bezug auf die Frage, ob es jenseits der Sprachen eine Grundsprache gibt, mit der sich auch Sigmund Freud seit der Behandlung des Daniel-Paul Schreber be­schäftigt hat. Linguistische Antworten können wir nicht geben, wollen nach der Beschäfti­gung mit Ihren beiden Büchern über Freud und die deutsche Sprache aber soviel sagen:

Es ist die Aufgabe jeder Sprache, einen Ausdruck für triebhafte Prozesse zu finden. Jede Sprache findet eine andere Lösung. Alle Sprachen aber bilden einen Zugang zum Unbewus­sten und eine Bewältigung desselben aus. Dem Übersetzer fällt auf, dass die Sprachen mit dem Unbe­wussten in verschiedener Weise in Verbindung stehen. Und deswegen verraten sich in den Sprachen unterschiedliche Abkömmlinge des Unbewussten.

Für Kinder bekommen in der Auseinandersetzung mit dem Triebhaften obszöne Worte eine besondere Bedeutung wegen der Rätselhaftigkeit der Sexualität und wegen der magischen Kraft der Worte. Und obszöne Worte zwingen, werden sie ausgesprochen, in besonderer Weise, sich das Bezeichnete bildhaft vorstellen zu müssen.

Die obszönen Worte haben ein besonderes Erregungspotenzial für Kinder, weil für sie An­schauung, Handeln und Denken noch nicht unterschieden sind. Sie behalten ihre magische Potenz, weil sie auch Erwachsene noch dazu zwingen, sich das anstößige Infantile vorstellen zu müssen.

Ein Kindervers aus Hamburg; ein Zweizeiler:

Goethe spielt Flöte
auf Schiller sein Piller.

Ein Beispiel für die Verschränkung von Hochkultur, Obszönität und infantiler Sexualtheorie.

Gespür für die Wiederkehr des Verdrängten

Wir sind wenige Tage vor dem 8. Mai, dem Jahrestag der Befreiung Europas vom National­sozialismus. Sie waren so freundlich, lieber Herr Goldschmidt, mir Ihren Vortrag zu schicken, den Sie in einer Woche auf der Tagung „Gerettet, aber nicht befreit?“ in Frankfurt halten werden. In ihm machen Sie deutlich, dass die Bedrohung der Zivilisation keineswegs vorbei ist. „Die Wollust am Töten“ kehrt wieder. (Unveröffentlichtes Manuskript 2015, S. 16f.) Um dagegen aufstehen zu können, ist es nötig zu begreifen, was Sie sich erarbeitet und uns in Ihrem Werk weitergegeben haben: die mutige und offene Auseinandersetzung mit den un­bewussten Ursachen des Zerstörerischen. Auch dafür danken wir Ihnen.

© Leila Beka Focke, Stuttgart und Wulf-Volker Lindner, Hamburg

Literatur von Georges – Arthur Goldschmidt:

Die Absonderung (1991)
Die Aussetzung (1996)
Als Freud das Meer sah (1999, französisch Quand Freud voit la mer – Freud et la langue allemande 1988)
Über die Flüsse (2003, französisch La traversée des fleuves 1999)
Ein Wiederkommen (2012, französisch L’Ésprit de retour, 2011)
Der Ausweg (2014, französisch Les recours 2005)
Gerettet, aber auf Widerruf befreit! Unveröffentlichtes Manuskript, 2015
Freud wartet auf das Wort (2008, französisch: Quand Freud attend la verbe. Freud et la langue allemande II 1996)

Sekundärliteratur über Georges – Arthur Goldschmidt:

Martin Doerry: Nirgendwo und überall zu Haus“. Gespräche mit Überlebenden des Holocaust, Fotografien von Monika Zucht, München 2006

Psychoanalytische Literatur:

Sigmund Freud:
Die Verneinung (1925) GW XIV, S.11 – 15
Ein Kind wird geschlagen (1919) GW XII, S. 195 – 226
Psychoanalytische Bemerkungen über einen autobiographisch beschriebenen Fall von Paranoia“ (Dementia paranoides) (1911) GW VIII, S. 239 - 320

Sándor Ferenczi:
Über obszöne Worte. Beitrag zur Psychologie der Latenzzeit (1911) in: Bausteine zur Psychoanalyse, Leipzig – Wien – Zürich, S. 171 - 188; Nachdruck

Lexika:
Gerhard Wahrig: Deutsches Wörterbuch, München 1986

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