Liebe Uschi,
 
vielen Dank für den sehr schönen Beitrag zu Covid mit Deinen sehr differenzierten und  anregenden Gedanken!
Einen Deiner Aspekte will ich etwas ausweiten, obwohl mir meine Gedanken ziemlich trivial vorkommen:
 
Schon über viele Jahre beschäftigt mich der Händedruck bei Begrüßung und Abschied meiner Analysanden. Was wird mir körperlich mitgeteilt, was empfinde ich und teile ich mit. Noch heute erinnere ich mich sehr gern an den überaus angenehmen Händedruck einer mir sehr sympathischen Analysandin. Meine Zuneigung entsprach nicht meinem Neutralitätsideal und ich habe mich manchmal gefragt, wie es mir in England gehen würde, niemals würde es zu diesem Körperkontakt kommen und damit vielleicht auch nicht zu meinem Körperkonflikt?
 
Was ich mit ‚trivial‘ meine, ist der alte und ubiquitäre Konflikt zwischen Nähe-Sehnsucht und Näheangst. Braunbären, so lernte ich, brauchen ‚unheimlich‘ lang, bis sie sich paaren können, weil sie soviel Angst haben, gefressen zu werden, wenn sie sich nahe kommen, über eine Distanzgrenze gehen.
Dieser Konflikt kann etwas vermieden werden, wenn man sich z.B. gar nicht per Hand’schlag’ begrüßt, sich körperlich fern bleibt (s. England). Aber in Zeiten von Covid wird er so ausgeprägt: ein Pat. wollte mir nach der letzten Stunde der Behandlung , wenigstens da, die Hand geben. Ich verweigerte dies und das geht mir nach! Vielleicht drücken die ubw Lösungen für Covid solche Muster aus für die versuchte Lösung des o.g. Konflikts: entweder Rückzug in die Quarantäneisolation oder Verschmelzung in der Querdenkermasse. Das alte Muster von entweder oder, alles oder nichts mit allen narzisstischen Empfindungen.
Du hast sehr schöne Versuche beschrieben, aus diesem ganz oder gar-nicht zu entkommen: gemeinsam im Freien zu singen etc.
Mir fällt aber auch die analytische Körperwahrnehmung ein, wie ich sie erlebt habe:
was empfinde ich bei der langsamen Annäherung (aktiv oder passiv) an ein Gegenüber, welche Gefühle, Gedanken und vor allem Körperreaktionen zeigen sich, überraschen mich und mein Gegenüber? Wann muß ich oder der/die andere ’stop’ sagen? Dieses Erleben kann den Weg in die Sprache finden und dann weiter analysiert werden, sehr fruchtbar, finde ich, und tatsächlich eine Möglichkeit zu mehr Selbsterkenntnis. Zwar wende ich diese Therapie oder Wahrnehmung nicht konkret an, aber ich ermuntere meine Patienten, sich in solche Erfahrungen (in der Phantasie oder Erinnerung) zu begeben und darüber zu berichten. — Jetzt als Opa, habe ich mit meinen verschiedenen Enkelkindern dazu viel Gelegenheit!
 
Dies alles nur ganz assoziativ niedergeschrieben, vor der Praxis.
Herzliche Grüße an Euch beide
Euer Frieder 
 
Dr. Friedrich Roller, Stuttgart, 5.Mai 2021