Liebe Frau Kreuzer-Haustein,

vielen Dank für die Idee und Initiative, sich in solcher Form unter analytischen Kollegen auszutauschen.

Vielen Dank auch für Ihren Aufsatz, der wichtige Gedanken enthält. Insgesamt erlebe ich ihn aber als ängstlich getönt und zum Teil polarisierend in dem Sinne, dass der Eindruck entsteht, als gäbe es nur zwei Wege in der Pandemie, entweder das Virus als so gefährlich anzuerkennen, dass angstfrei nur noch mediale Treffen möglich sind, oder das Virus zu verleugnen. Dadurch geht die Ausarbeitung unserer spezifischen psychoanalytischen Antwort auf die Bedrohung durch Covid-19 etwas verloren.

Meist schreiben Sie in einem „wir“, aber wer ist gemeint? Ist es ein literarisches „wir“ oder ist es das „wir“ der psychoanalytischen Gesellschaft oder dient es der Abgrenzung von den Covid-19-Leugnern, wo sich das „wir“ verliert? Natürlich grenze auch ich mich von diesen Menschen ab, aber damit ist meine Position noch nicht beschrieben. Wie gehe ich persönlich und auch als Analytikerin mit dieser Bedrohung durch Covid-19 um?

Nur, weil ich das Virus nicht verleugne und Psychoanalytikerin bin, bin ich vor einfachem Denken und einfachen Lösungen nicht geschützt. Auch als Psychoanalytikerin spüre ich immer wieder den Drang in mir, zu wissen, was gut ist, den Drang, meine inneren Nöte in anderen, aktuell vielleicht Coronaleugnern (?), unterzubringen, oder auch von Angst eingenommen zu werden, so dass ich nicht mehr differenziert nachdenken kann. Die Psychoanalyse macht diese Tendenzen nicht weg. Sie hilft mir nur gemeinsam mit kritischen Menschen um mich herum, schneller wieder daraus herauszufinden, damit wieder Ambivalenz und Zweifel möglich sind, das, was eine kluge Frau einmal als depressive Position beschrieben hat.

Wenn jemand, wie Sie schreiben, „vielleicht sogar ängstlich und verschreckt“ auf „Dokumente aus Vor-Corona-Zeiten (Fotos, Filme) mit Menschen, die eng beieinander sind, sich umarmen, zusammen Musik machen oder sich nur die Hand geben“ reagiert, ist es dann nicht höchste Zeit, dass dieser Mensch sich mit seinen Mitmenschen austauscht und wenn das nicht zum Aufweichen führt, einen Psychotherapeuten, vielleicht einen Psychoanalytiker aufsucht? Verbinden sich da nicht die konkreten aktuellen Ängste mit den von Ihnen zitierten althergebrachten mit der jeweils individuellen Betonung und ist es dann nicht unsere Aufgabe als Analytiker, diese Verbindungen aufzuspüren, dass es vielleicht doch nicht so neu ist, was da mit dem Virus daherkommt? Dazu bringen Sie klinische Beispiele und zeigen, dass sich in der Pandemie eher altes im neuen Gewand zeigt. Dann kann vielleicht wieder mehr in einer Person gespürt werden, dass Kontaktbeschränkungen entlasten können, aber auch spürbar machen, wie unaushaltbar allein sein ist, dass eine Verordnung entlasten und sich geschützt fühlen lassen kann, aber auch das freie Denken bedrohen und bevormunden kann, dass Solidarität und das Miteinander freuen können, aber auch erschrecken lassen können vor dem Angewiesensein auf andere, usw.

Aber eben auch wir Analytiker sind vor schwierigen inneren Bewegungen nicht gefeit und müssen aufpassen, dass nicht eine Position, die auf den ersten Blick als depressiv erscheint, nicht doch nur eine „quasi-depressive“ ist, wie R. Britton in seinem Aufsatz „Vor und nach der depressiven Position.“ so eindrucksvoll beschrieben hat. (2001 in: Glaube, Phantasie und psychische Realität. Klett-Cotta Verlag). Das ist eine lebenslange Arbeit, für Analytiker und Nichtanalytiker.

Was ist also mit uns selber los? Was ist los mit einem Kollegen, wenn er den Vorschlag, eine kleine Supervisionsgruppe, in der Abstand, Maske, Lüften gewährleistet ist und die Kollegen mindestens ein Mal geimpft sind, klar ablehnt. Natürlich ist es legitim, vorsichtig zu sein, aber ich frage mich schon, ob da nicht eine Vorsicht in einen Wunsch nach Garantien übergeht? Und geht da nicht verloren, dass die Infektionsschutzmaßnahmen tatsächlich wirksam sind und wir es geschafft haben, das Virus soweit unter Kontrolle zu bekommen, dass es nicht zu Katastrophen in Krankenhäusern und gesellschaftlich gekommen ist? Unser Ziel war und ist doch nicht, Tote zu verhindern, sondern, dass es so wenige wie möglich werden und Folgen verschiedener Maßnahmen gegenüber sorgfältig abzuwägen.

Und was ist mit einem Kollegen, der bei einem online-Treffen psychotherapeutischer Ausbildungsinstitute fragt, was unter dem „zwingend erforderlich“ in der Infektionsschutzverordnung zu verstehen ist, wenn es um Abschlussprüfungen in Präsenz geht? Wird da doch der Wunsch nach einer Antwort von oben stärker, als die Bereitschaft, die vom Gesetzgeber geschaffenen Möglichkeiten eigenverantwortlich zu nutzen?

Sie schreiben: „Die Existenz des Virus anzuerkennen und nicht zu verleugnen, ebenso die Realität, dass trotz schneller Produktion mehrerer Impfstoffe die nächste Bedrohung durch die Ausweitung diverser Mutationen auf uns zukommen wird, ist für uns alle eine große Herausforderung. Sie kann auch weiterhin dann annähernd gelingen, wenn wir uns der enormen medialen Möglichkeiten bedienen, um im Kontakt zu bleiben.“ Das ist für mich doch eine sehr konkrete, eingeschränkte und handlungsorientierte Antwort. Wo bleibt da die Offenheit des analytischen Denkens, die Kreativität und Ideen fördert und Zweifel zulässt? Natürlich nutze auch ich die medialen Möglichkeiten und finde sie in dieser Ausnahmesituation segensreich. Und es sind dadurch einfach auch Kommunikationsmöglichkeiten erweitert worden. Aber die Herausforderung besteht doch darin, wie wir lernen, mit diesem Virus und seinen Mutationen weiterzuleben, ohne dass wir uns allein auf die medialen Möglichkeiten beschränken oder das Virus verleugnen. Dazu gehört auch ein Glaube an die wissenschaftlich nachgewiesenermaßen wirksamen Infektionsschutzmaßnahmen und die Impfungen und ein vernünftiges Abwägen, wann in welcher Situation was möglich ist, ohne sich von der Angst einschüchtern zu lassen. Es geht für mich um Risikoreduktion und nicht Risikoverhinderung. Das letztere ist für mich eine omnipotente Vorstellung.

Ich habe vor drei Wochen an einer Intervisionsgruppe in Präsenz teilgenommen. Wir waren zu sechst, haben den Infektionsschutz beachtet und waren zudem alle mind. ein Mal geimpft. Es war wunderbar, sich endlich wieder in dieser Form austauschen zu können und damit auch die Qualitätssicherung unserer Arbeit weiterzuverfolgen. Aber natürlich bedarf es auch des Mutes, diesen Vorschlag zu machen, dass er von anderen aufgegriffen wird und eine Abgabe der Verantwortung an den Einzelnen.

Ich habe einen sehr schönen Fahrradweg in meine Praxis. Ich fahre durch Wald und Wiesen, aktuell begegne ich auf einem Feld jungen Kälbern und auf einer Einzelweide einem Kälbchen mit seiner Mutter. Ich genieße die Landschaft, die körperliche Bewegung und die Möglichkeit, dabei Zeit zu haben, meine Gedanken schweifen zu lassen und dabei manches aus dem Praxisalltag Revue passieren zu lassen. Aber natürlich ist Fahrradfahren auch gefährlich, deshalb ziehe ich auch einen Fahrradhelm an und stürze mich nicht ohne Abbremsen die Steigungen hinunter. Und natürlich weiß ich, dass ich potentiell tödlich stürzen kann. Nur denke ich darüber beim Fahren nicht nach. Aber vielleicht lässt mal ein Kind unachtsam einen dicken Stock liegen, oder es ist matschig und rutschig nach einem Regen und ich falle so, dass ich tot bin. Aber dann habe ich bis dahin versucht, das Leben mit Vernunft auszukosten und mir Freude nicht zu sehr nehmen zu lassen.

Nein, ich vergleiche nicht das Coronavirus mit dem Fahrradfahren. Ich möchte damit nur einen differenzierten Umgang mit Angst und Bedrohung unterstreichen.

Zum Schluss lasse ich Erich Kästner sprechen:

"Wird's besser? Wird's schlimmer?
 fragt man alljährlich.
 Seien wir ehrlich:
 Leben ist immer 
lebensgefährlich.“

Mit herzlichen Grüßen,

Eva Rosenau, AG der DPG Stuttgart, 16.5.2021