Tobias Brocher

Was ein Psychoanalytiker alles machen kann

Zum 100. Geburtstag von Tobias Brocher

Am 21. April 2017 wäre Tobias Brocher 100 Jahre alt geworden. Er war einer der Pioniere der Psychoanalyse nach 1945 in Deutschland, Mitglied der „Deutschen Psychoanalytischen Vereinigung“ und Ehrenmitglied unserer Gesellschaft.

Geboren 1917 in Danzig, studierte er In Berlin Medizin, Psychologie, Pädagogik und Philosophie. Nach der Promotion zum Dr. med. und dem Staatsexamen wurde er 1942 sofort an ein Berliner Krankenhaus „notverpflichtet“ und zur Marine einberufen. Das Kriegsende erlebte er, jetzt 28 Jahre, in Hamburg, wo sein Leben, wie er einmal erzählte, neu begann. Er wollte Psychiater und Psychotherapeut werden und ging zur Facharztausbildung und Psychotherapieausbildung an die Stuttgarter Nervenklinik und das psychiatrische Landeskrankenhaus in Schussenried. Gleichzeitig machte er in Stuttgart eine Ausbildung zum Psychotherapeuten am gerade von Wilhelm Bitter, Herrmann Gundert und Felix Schottländer geründeten Institut für Psychotherapie und Tiefenpsychologie. 

Einzelne nun behandeln zu können, damit war er nicht zufrieden. Nach seinen Erfahrungen im Nationalsozialismus suchte er viel mehr unruhig und neugierig sein ganzes Leben weiter danach, immer mehr und Neues über die Hintergründe zu erfahren, warum Einzelne zu denen werden, die sie später sind. Sie in in ihren Paar-, Familien-, Gruppen – Beziehungen und in ihren gesellschaftlichen Zusammenhängen besser zu verstehen, trieb ihn an. Das ist an den Stationen seiner Berufsbiographie deutlich abzulesen: 

1953 gab er seine Stelle als Medizinalrat in Schussenried auf und ging nach Ulm in eine sog. freie psychotherapeutische Praxis. Dort gründete er 1954 die Familien- und Elternberatung und 1955 die Elternschule. Institutionserfahrungen erwarb er sich, indem er selbst Ämter in Institutionen übernahm. 1955 wurde er in den Vorstand des Stuttgarter Instituts für Psychotherapie und Tiefenpsychologie gewählt. Bereits 1949 hatte er zusammen mit Viktor von Weizsäcker, Wilhelm Bitter und Alexander Mitscherlich die Deutsche Gesellschaft für Psychotherapie und Tiefenpsychologie gegründet (DGPT, heute: Deutsche Gesellschaft für Psychoanalyse, Psychotherapie, Psychosomatik und Tiefenpsychologie e.V.), deren Vorsitzender er von 1958 bis 1968 war. 

Die Auseinandersetzungen mit den unbewussten Dynamiken in Einzelnen, in Gruppen, Institutionen und in der Gesellschaft machten erneut Lehrjahre nötig. Zwischen 1961 und 1963, Tobias Brocher ist nun 44 Jahre alt, machte er in London erneut eine Analyse und vertiefte seine Erfahrungen und Kenntnisse am British Institute of Psychoanalysis, wo er von Michael Balint und Wilfred Bion lernte. Unbewusste Prozesse in Gruppen studierte er auch am Tavistock Institute of Human Relations und an der Hampstead Child Clinic. In Lausanne gründete er zusammen mit Warren Bennis, Harold Bridger und Eric Trist das European Institute for Transnational Studies of Group and Organisational Development. Dass die Psychoanalyse auch in der Bildungsarbeit im Sinne von Affektbildung (Alexander Mitscherlich) fruchtbar werden müsste, auch diese Überzeugung entwickelte sich in diesen Jahren. 1963 gründete er zusammen mit Donald Nylen das erste gruppendynamische („Schliersee"-) Seminar für Lehrer.

Im gleichen Jahr wurde er als Professor an das Sigmund - Freud - Institut in Frankfurt am Main berufen, wo er neben seiner Tätigkeit in der psychoanalytischen Ausbildung vor allem über öffentliche Erziehungseinrichtungen, Prozesse in Gruppen und Methoden der Selbsterfahrung in Gruppen mit Pädagogen und Angehörigen sozialer Berufe forschte und veröffentlichte. 

Seine Fähigkeit, seine Kenntnisse  mündlich wie schriftlich überzeugend in lebendige Worte fassen zu können, eröffnete ihm die Möglichkeit, in den damals neuen Medien Rundfunk und Fernsehen eigene Sendereihen über Psychoanalyse zu bekommen. Seine Sendereihe “Das unbekannte Ich“ im ZDF ist Älteren vielleicht  in lebendiger Erinnerung. 

Von 1968 bis 1982 hatte er verschiedene Professuren in Deutschland und in den USA inne: in Pittsburgh/Pennsylvania und an der Menninger School of Psychiatry in Topeka/Kansas; 1970 bekam er in Gießen ein Ordinariat für Sexualerziehung und Sozialpsychologie; hier erreichte ihn der Ruf zurück in die USA an die berühmte Menninger Foundation, wo er zehn Jahre angewandte Psychoanalyse lehrte und als Direktor des Center of Applied Behavioral Sciences auch mit Führungskräften aus Regierung, Gesellschaft, Wirtschaft und Kirchen und ihren Institutionen als Consultant arbeitete. 

Mit 65 Jahren kehrte er 1982 nach Deutschland zurück und arbeitet sechs Jahre in Düsseldorf in der psychoanalytischen Ausbildung, als Teamsupervisor und Institutionsberater. In dieser Zeit unterstützte er auf dem Hintergrund seiner langjährigen Erfahrungen mit den vielfältigen Entwicklungen der Psychoanalyse in England und in den USA mit großer Aufgeschlossenheit die Wiederannäherung der beiden deutschen psychoanalytischen Gesellschaften DPG und DPV. Dafür wurde er von der DPG mit der Ehrenmitgliedschaft geehrt. 1988 siedelte er nach München über, von wo er immer wieder zu Vorträgen, Team- und Institutionsberatungen aufbrach. Seine reiche Lebens- und Berufserfahrung in den unterschiedlichsten Anwendungsbereichen von Psychoanalyse, aber auch seine lebenslange Neugier und Lernfähigkeit war überall geschätzt. Für seine Verdienste um die Seelsorge, kirchliche Beratung und Gruppenarbeit wurde ihm 1989 vom Fachbereich Ev. Theologie der Universität Hamburg der Doktor der Theologie ehrenhalber verliehen. Am 30.10. 1998 starb er mit 81 Jahren in München.  

Tobias Brocher hinterließ ein Werk von mehr als160 Veröffentlichungen, darunter 12 Bücher (s. seine umfassende Bibliographie 1955 – 1987 von Thomas Stahlberg in dem ihm gewidmeten Heft der Zeitschrift Gruppenpsychotherapie und Gruppendynamik Band 25, Heft 1, August 1989, S. 79-89). Seine Filmothek umfasst 2 Sendereihen mit 26 Filmen. Von seinen im engeren Sinne wissenschaftlichen Werken ist seine Arbeit „Anpassung und Aggression in Gruppen “ (in: Alexander Mitscherlich (Hrsg.): Bis hierher und nicht weiter. Ist menschliche Aggression unbefriedbar?, München 1969, S. 154 – 206) noch heute aktuell, insbesondere wegen seiner Ausführungen zur Entstehung von Normen in Gruppen, dem lange fehlenden Bindeglied zwischen Psychoanalyse und den Sozialwissenschaften.  

Prof. Wulf-Volker Lindner, Hamburg