Initiiert durch die „AG Marktplatz – Angewandte Psychoanalyse“ fand vom 15. – 16. März in Berlin eine Tagung statt, die das Unbehagen angesichts zunehmender destruktiver gesell­schaftlicher Prozesse thematisierte, von denen wir als Bürger und in unserer Arbeit als Psychoanalytiker betroffen sind. Die Organisatoren der AG Marktplatz luden dazu ein, im Austausch miteinander über die zugehörigen psychischen und sozialen Aspekte gemeinsam nachzudenken und erste Überlegungen zu entwickeln, wie wir uns in den gesellschaftlichen Diskurs einmischen könnten. Erfreulicherweise zählten zu den 29 Teilnehmern auch Mit-glieder anderer Fachgesellschaften (DPV, VAKJP).

Zwei Vorträge zu Beginn von Peter Gabriel (Heidelberg) und Wilhelm Skogstad (London) boten einen reichhaltigen Input, der auf je unterschiedliche Weise in die Thematik einführte:

Peter Gabriel problematisiert die vorwiegende, wenn nicht ausschließliche Fokussierung auf individuell-klinische Aspekte der Psychoanalyse in Zeiten, in denen politische Unvernunft ebenso wie unser aller Leben gefährdende globale Bedrohungen (am Beispiel der Atom­kriegsgefahr) rasant zunehmen. Kann angesichts unserer mittlerweile auf „2 vor 12“ stehenden doomsday clock das Öffentlich-Politische generell in Psychoanalysen ‚draußen’ bleiben? Bedeutet ein durchgängig einzuhaltendes Abstinenz- und Neutralitätsgebot nicht, „zu fiedeln, während Rom brennt“ – also als Analytiker selbst Teil der kollektiven Verleugnung zu werden im Hinblick auf ein Desaster, das zwar in greifbare Nähe rückt, aber dennoch als undenkbar und unvorstellbar deklariert wird. Es kann unseren Patienten nicht verborgen bleiben, wenn diese Aspekte der äußeren Realität im Behandlungszimmer ausgeklammert werden. Für Gabriel birgt es größere Gefahr, sich in einer Pseudo-Welt gemeinsam einzurichten, die davon unberührt bleibt, als die Konfrontation damit zu wagen. Davon ausgehend plädiert er für eine ‚nicht apolitische, aber auch nicht politisierte’ Psychoanalyse, die gesellschaftliche Hintergrundprozesse miteinbezieht und ausschließlich individualisierenden Deutungen kritisch gegenübersteht.

Wilhelm Skogstad untersucht in seinem Vortrag zunächst die Motive, die verhindern, uns engagiert mit der massiven Bedrohung unserer Umwelt auseinanderzusetzen, sondern statt-dessen Passivität bzw. Apathie begünstigen: Dabei geht es um die angsterfüllte Weigerung, das Ausmaß der bereits an ‚Mutter Natur’ verübten Schäden anzuerkennen; die verleugnete Schuld führt zu einer Art gesellschaftlicher Depression. Dies kann auch dann der Fall sein, wenn hoffnungsvolle resp. idealisierende Perspektiven (z. B. des vermeintlichen Sieges west­licher Ideologien nach dem Ende des Kalten Krieges) sich als trügerisch erweisen bzw. scheitern und destruktiv-ausbeuterische Tendenzen wieder mehr zum Vorschein kommen. Hanna Segal sah es angesichts fundamentaler Bedrohung von Menschenrechten oder unserer Existenzgrundlagen als Pflicht des Analytikers, sich öffentlich zu engagieren, auch wenn die analytische Haltung sonst üblicherweise auf Handeln verzichtet. Silence is the real crime- da gerade wir es sind, „die das destruktive Potential im Menschen und die schizoiden Abwehrmechanismen kennen, dürfen wir nicht schweigen, wenn diese das politische Handeln dominieren und gleichzeitig so verharmlost werden.“ Das spezifische Problem unserer Tage besteht darin, dass wir es mit perversen Prozessen zu tun haben, die objektive als auch seelische Wahrheit korrumpieren. Um sich dem entgegenzustellen, braucht es gute, gefestigte und berührbare innere Objekte, wie sie vielleicht kennzeichnend sind für die mutigen Einzelnen (z. B. die Geschwister Scholl, Nelson Mandela), die einen Anfang machen, der ‚Wellen schlägt’, oder auch diejenigen Analytiker, die zur Lösung internationaler Konflikte zwischen tief verfeindeten Gesellschaftsgruppen beigetragen haben, indem die Ängste und Demütigungen allerBeteiligter einbezogen wurden.

Beide Vorträge, die nicht zuletzt auch durch die Mitteilung persönlicher Erfahrungen der Autoren berührten, vermittelten die hilfreiche Wirkung von ‚Wortfindungs-Prozessen’, die Verbindungen schaffen und dadurch das Alleinsein der Einzelnen überwinden. Die Resonanz in der Gruppe bestand vor allem in Erleichterung und großer Dankbarkeit, nun nach zwei Jahren ‚in den Startlöchern’ einen Raum zum gegenseitigen Austausch nutzen zu können. In der Diskussion der Gesamtgruppe (Fishbowl) kam eine breite Palette unterschiedlicher Aspekte zur Sprache, wobei persönliche Betroffenheit, Gefühle der Angst, Wut, Resignation und Schuld sowie weitreichende Reflexionen sich miteinander verwoben. U. a. ging es um die emotional kaum auszuhaltende Erschütterung durch die tägliche Bilderflut in den Medien, die unser seelisches ‚Verdauungssystem’ überfordert (aktuell hatte gerade das Massaker in Christchurch stattgefunden), zu Ohnmacht und Abschalten führen, aber auch aufrütteln kann (die Leiche des 2j. syrischen Jungen am Strand). Wie ist dann Containment möglich und da heraus der Mut, Stellung zu beziehen, auch wenn dieses Handeln (nicht zuletzt in der eigenen Community) negativ konnotiert ist? Thematisiert wird auch die saturierte ‚Trägheit des Herzens’, die uns insbesondere in Zeiten weniger eklatanter Kon-flikte mental einschlafen und das analytische Werkzeug der Vorstellungskraft verblassen lässt. Ist das Politische in unseren Behandlungen etwas Inhaltliches oder vielmehr die Arbeit in den Beziehungen im Großen wie im Kleinen? Die Bedeutsamkeit menschlicher Begegnung wird deutlich am Beispiel der „civil assemblies“ in Irland, wo sehr konträre Standpunkte in der Frage des Abtreibungsgesetzes sich einander annäherten.

Am 2. Tag schloss sich an die große Diskussionsrunde die Arbeit in Kleingruppen an, die sich thematisch mit folgenden selbst erarbeiteten Schwerpunkten beschäftigten: Perverses Denken – was können wir tun? Polarisierung und Populismus; Braucht es das Entsetzen, um tätig zu werden? Phantasien zur Zukunft / Generationen-Beziehung; Psychoanalytische Öffentlichkeitsarbeit; Ausgangslage Gewalt.

Die Schlussrunde öffnete nochmals den Raum für Voten aus den Kleingruppendiskussionen sowie Gedanken zur Weiterarbeit. Überraschend inszenierte sich das Thema Polarisierung live in der Gruppe, wobei die Verführung zur Ausgrenzung erlebbar wurde, die Gruppe ihr jedoch nicht erlag, sondern kritische Auseinandersetzung möglich war. In der hautnahen Konfrontation mit einer nun nicht mehr nur theoretisch zu reflektierenden Problematik gelang es auf beeindruckende Weise, weder vernichtend noch ausschließend, wohl aber konfrontierend-abgrenzend zu reagieren und die eigene Betroffenheit, nicht nur der Kolleg-Innen mit Migrationshintergrund, in Worte zu fassen. In diesem Kontext ging es nicht zuletzt um die Frage, ob es eine innere resp. äußere ‚rote Linie’ gibt beim Versuch, die Gegenseite zu verstehen bzw. im Gespräch zu bleiben?

Öffentlichkeitsarbeit könnte aktuelle Konflikte zum Aufhänger nehmen, um gesellschaft­liche Dynamiken aus psychoanalytischer Sicht zu beleuchten, mit Zeitung, Radio, Video als möglichen Medien. Insgesamt blieb der sehr positive Eindruck einer Veranstaltung, auf die viele schon lange gewartet bzw. gehofft zu haben schienen – eine Schnittstelle zwischen innerer Reflexion und notwendigem Handeln, die es ermöglichte, gemeinsam etwas zu bearbeiten und aus der analytischen Einsamkeit herauszukommen; von daher auch der einhellige Wunsch, den Prozess fortzusetzen. Dank sei den Veranstaltern!

Luise Bringmann, Berlin 3.4.2018