Nachruf für André E. Haynal

von Ingo Focke

André Haynal, geboren am 13. 8. 1930 in Budapest, ist am 7. November 2019 nach längerer Krankheit in Genf gestorben. Wir verabschieden uns von einem großen Kenner und Lehrer der Psychoanalyse, von einem Forscher, Denker und Kommentator, dessen vielfältiges Werk unsere Wissenschaft bis heute beeinflusst.

Psychoanalyse kann man nicht allein aus Büchern erlernen. Sie wird vielmehr weitergegeben in persönlichen Begegnungen, André Haynal näher kennenzulernen, war ein besonderes Privileg. Ich kannte ihn zunächst durch sein Buch „Die Technikdebatte in der Psychoanalyse“, welches 1989 erschienen war und nicht für die „richtige Technik“, sondern für eine psychoanalytische Haltung eintrat. Er kam 1998 als Mitglied des ersten explorativen Komitees der IPV zur DPG, um die Möglich­keiten der Wiederaufnahme der Gesellschaft in die IPV zu prüfen, und er begleitete diesen Prozess bis zur Aufnahme der DPG als Zweiggesellschaft der IPV im Jahr 2009 als Mitglied des „Joint Steering Committee“, dem ich ebenfalls angehörte.

Unsere persönlichen Begegnungen wurden zu einer Erfahrung, die geradezu diametral den damals vor­herrschenden Projektionen auf die internationale Vereinigung (IPV) widersprach, wenn dort der Hort einer analytischen Orthodoxie vermutet wurde. Sein Skeptizismus, sein Humor, seine Ironie sowie sein außerordentlicher Charme hoben den gelegentlich großen Ernst in unseren Verhandlungen immer wieder auf und wirkten erfrischend gegen „zwanghafte“ Regelungswünsche, die nämlich nicht nur teutonischen Ursprungs waren, sondern natürlich auch in der IPV ihren Platz hatten.

André Haynal war kein Parteigänger einer Schule der Psychoanalyse. Ganz im Gegenteil. Er kritisierte jeden Dogmatismus, blieb der Sicherheit des Wissenden gegenüber tief misstrauisch und hielt eine kritische und manchmal spöttische Distanz zu denen, die ihn für eine bestimmte Überzeugung ver­einnahmen wollten.

Sein auf Deutsch 1995 erschienenes Buch „Psychoanalytische Kenntnis“ ist von seinem Bemühen geprägt, Brücken zwischen unterschiedlichen schulischen Auffassungen zu bauen und die Psycho­analyse in einen Austausch mit anderen Wissenschaften zu bringen. Die Psychoanalyse müsse sich wie alle anderen Wissenschaften immer wieder auf grundlegende Art infrage stellen und ihre Positio­nen in der Praxis überprüfen. Diese Haltung bewunderte er bei Sigmund Freud. Er teilte auch dessen Skeptizis­mus gegenüber der Überschätzung der therapeutischen Wirkung der Psychoanalyse. Diese Skepsis bezog sich auch auf Psychoanalytiker, die den Verlust der Bedeutung der Psychoanalyse durch eine Idealisierung der Methode ausgleichen wollten. Aber zugleich stellte er fest, wie einmalig die psychoanalytische Situation für die Erforschung der menschlichen Seele ist.

André war immer neugierig und humorvoll skeptisch. Sein Schicksal als Migrant hatte ihn zu einem mehrsprachigen Kosmopoliten gemacht und seine Sinne für die Beobachtung geschärft (Über Emi­gration, Vortrag 2008 in Wien). Er hatte immer ein Herz für eigenständige und vom Mainstream der Psychoanalyse abweichende Gedanken: „Wir brauchen besonders die Außenseiter!“.

André war maßgeblich an der Herausgabe der 1500 Briefe zwischen Sigmund Freud und Sandor Ferenczi, zwischen 1908 und 1933 beteiligt. Trotz seiner spürbaren Sympathie und Zuneigung für die Arbeiten von Ferenczi, den er wieder einer größeren psychoanalytischen Öffentlichkeit nahegebracht hat, nahm er keine Partei. Er vertrat die Auffassung, dass Freud und Ferenczi aus verschiedenen Perspektiven auf unse­ren Forschungsgegenstand, das Unbewusste, schauen. Zwischen diesen, der Bedeutung der Einsicht auf der einen Seite und der Bedeutung des Erlebens auf der anderen Seite, würden sich auch alle nachfolgenden Analytiker bewegen. Bekanntlich hatte sich das Interesse von Ferenczi, von der Zentralität des Ödipuskomplexes ausgehend, den Spuren der Beziehung zur frühen Mutter zugewandt. Und modern sei Ferenczi auch durch die Wiedereinführung der Traumatheorie und der großen Bedeutung der Wiederholung der Traumata in der Gegenwart der analytischen Situation. Melanie Klein stand für ihn in einer Reihe mit Ferenczi; geprägt hatte ihn schon in der Ausbildung eine kleinianische Supervision bei Marcella Spira in Genf. Gewisse dogmatische Entwicklungen in der Kleinianischen Schule fanden hingegen nicht seinen Beifall. Ebenso wenig eine amerikanischen Ich-Psychologie, die von einer persönlichen Zurückhaltung des Analytikers im Sinne einer indifferent anmutenden Haltung geprägt war.

André wuchs in kulturellen, sozialen und familiären Spannungsfeldern auf. Sein Vater leitete als Internist ein Krankenhaus in Budapest, er war aus dem früher eine Zeitlang selbständigen Trans­sylvanien dorthin gekommen. Er war Katholik, Andrés Mutter stammte aus einer calvinistischen Familie. Die Familiensituation war typisch österreichisch-ungarisch. Es wurden mindestens drei Sprachen gesprochen, nämlich Deutsch, Ungarisch und Rumänisch. Die komplizierten Beziehungen, in denen André Haynal aufgewachsen ist, können Sie seinem Beitrag „Begegnungen mit dem Irrationalen“ in Band 7 der „Psychoanalyse in Selbstdarstellungen“, herausgegeben von Ludger Hermanns, entnehmen.

André überstand die Zeiten des Krieges, die deutsche Besatzung, die russische Eroberung und die Errichtung eines kommunistischen Regimes. Nach der Niederschlagung des ungarischen Aufstandes 1956 floh er über Wien nach Zürich. Dort nahm er sein Medizinstudium wieder auf, das er nach einem Philosophie- und Psychologiestudium schon in Budapest begonnen hatte. Er spezialisierte sich zu­nächst in Neurologie, machte aber gleichzeitig seine analytische Ausbildung (1960-1968). Seit dem Jahr 1968 war er an der Universität in Genf tätig, von 1977 bis 1995 hatte er dort einen Lehrstuhl für Psychiatrie inne.  André Haynal war ein profunder Kenner der Psychiatrie, der psychosomatischen Forschung, der Neurobiologie und der Wissenschaftstheorie. Kulturelle und soziale Kontexte waren ebenfalls wichtig. Seine Arbeiten über Fanatismus legen davon Zeugnis ab.

Er hat die großen Strömungen in der psychoanalytischen Entwicklung der letzten 50 Jahre persönlich erlebt. Im deutschsprachigen Raum die Abspaltung des Züricher Seminars aus der IPV, als er selbst Vorsitzender der Schweizer Gesellschaft (1976 – 1979) war, die ganz eigene Entwicklung in der französischen und französischsprachigen Analyse, die verschiedenen Schulen in der Londoner Psychoanalyse sowie die amerikanische Ich-Psychologie, die Selbstpsychologie und die aufkommende Diskussion der Intersubjektivität und Interpersonalität. Er war zweimal für längere Zeit, 1980/1981 und 1988/1989, Visiting-Professor an der Stanford University in Kalifornien. So hatte er ein wenig von seinem Traum verwirklichen können, in die Neue Welt auszuwandern, den er anfangs in Zürich noch gehegt hatte.

Von Andrés zahlreichen Auszeichnungen soll die Verleihung des Mary S. Sigourney Awards im Jahre 2007 in New York erwähnt werden. Seit 2009 ist er Ehrenmitglied der DPG.

All sein Wissen hat seine tiefe Überzeugung von der Irrationalität der menschlichen Psyche und der Unvollkommenheit der menschlichen Erkenntnis nur verstärkt „(I am a) passionate teacher, pretending to teach subjects nobody can really know anything about, like psychoanalysis ...“

(zitiert nach seiner humorvollen Website)

André Haynal hinterlässt seine Frau Veronique, seine beiden Kinder und einen Enkelsohn.

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