Ein Wiederbeginn nach Krieg, Holocaust und Freuds Tod
Unter dieser Überschrift fand die Tagung zur Erinnerung an den 16. IPV-Kongress 1949 vor 70 Jahren in Zürich am 11. Mai 2019 an der Psychiatrischen Universitätsklinik Burghölzli in Zürich statt.
Der Anlass der aktuellen Tagung war zu erinnern, dass sich Psychoanalytiker und Psychoanalytikerinnen 1949 in Zürich erstmals nach 1938 in Paris wieder zu einem IPV-Kongress getroffen hatten. In den Jahren zwischen diesen beiden Kongressen war Freud verstorben und der zweite Weltkrieg hatte viel Leiden verursacht. So waren auch viele jüdische Psychoanalytiker und Psychoanalytikerinnen emigriert, verschollen und vertrieben oder ermordet worden.
Als Veranstalter (Programm und Organisation) zeichneten das Archiv zur Geschichte der Psychoanalyse e.V. mit Ludger M. Hermanns und die LUZIFER–AMOR Zeitschrift zur Geschichte der Psychoanalyse mit Michael Schröter, beide Berlin. Die Veranstalter vor Ort waren das Freud-Institut Zürich (FIZ) mit Julia Belting Zürich/Berlin und das Psychoanalytische Seminar Zürich (PSZ) mit Katarzyna Swita und Thomas Kurz, Zürich.
Den Veranstaltern lag daran zu erinnern, mit welchen wissenschaftlichen Themen und unter welchen Umständen sich die psychoanalytische Bewegung nach der über zehnjährigen Unterbrechung wieder zusammenfinden konnte. Der Blick zurück reflektierte Versuche der internationalen Vergangenheitsbewältigung und Neuorientierung, zukunftsweisende Beiträge und die spezifischen Schweizer Verhältnisse zur Zeit des Kongresses 1949.
Thomas Kurz erwähnte in seinem Vortrag (Zürich 1949. Vorgeschichte und Umfeld eines zu Unrecht vergessenen IPV-Kongresses), dass der Schweizer Theologe und „Laienpsychoanalytiker“ Oscar Pfister, Mitbegründer der Schweizerischen Gesellschaft für Psychoanalyse (1919), als einziger Redner den Krieg und den Holocaust als Thema auf dem Zürcher Kongress eingebracht und Krieg und Frieden als psychoanalytische Probleme und Themen benannt hatte, worauf auch der Referent Josef Schiess einging (Ein-Blick in die Referate der Schweizer Psychoanalytiker am Kongress 1949). Schiess berichtete auch, Ulrike May zitierend, dass die amerikanischen Psychoanalytiker zu einem großen Teil Migranten waren, ehemals Verfolgte und Vertriebene, aber nun auch amerikanische Staatsbürger. Eine Liste der ermordeten Psychoanalytiker-Kollegen war zu Beginn des Kongresses 1949 verlesen worden.
Nina Bakman erinnerte an die rege Korrespondenz zwischen dem Schweizer Psychoanalytiker Gustav Bally (1893-1966) und Alexander Mitscherlich (1908-1982). Der Briefwechsel der beiden Freunde gibt Einblick in den Wiederaufbau der Psychoanalyse in Deutschland, an dem Mitscherlich maßgeblich beteiligt gewesen ist: Die Gründung der „Psyche“ und der Psychosomatischen Klinik in Heidelberg. In dieser Korrespondenz kommen auch das Unbehagen über die deutschen politischen Verhältnissen nach dem Krieg und die tägliche Not, das Bedürfnis nach Nahrung und ausländischer Literatur zum Ausdruck. Bally unterstützte ihn mit Lebensmitteln, Büchern und eigenen Beiträgen für die „Psyche“.
Susanne Klitschko zeichnete nach, wie sich für die 1938 unter Zwang aufgelöste und im Jahr 1945 neu gegründete DPG auf dem 49er Kongress eine - wie sich später zeigen sollte - für Jahrzehnte zukunftsprägende Entwicklung abbilden sollte. Unter dem Titel Querelles allemandes? Zur Kontroverse zwischen Carl Müller-Braunschweig und Harald Schultz-Hencke führte die Referentin aus, dass Schultz-Hencke einen Vortrag für den Kongress angemeldet hatte, in dem er seine begriffliche Erneuerung in der Psychoanalyse (Desmologie, Neopsychoanalyse) ausführte. Dies hatte Müller-Braunschweig veranlasst, in einem „Gegenreferat“ die Theorie von Schultz-Hencke anzugreifen, sich vor den IPV-Kollegen als ein in der Freud’schen Psychoanalyse beheimateten Psychoanalytiker zu profilieren und Schultz-Hencke die Rolle des Dissidenten zuzuweisen. In der Folge wurde 1951 die provisorische Mitgliedschaft der DPG gelöscht und die von Müller-Braunschweig neu gegründete DPV als Mitglied in die IPV aufgenommen. Sowohl Müller-Braunschweig als auch Schultz-Hencke waren nicht Mitglieder der NSDAP gewesen, jedoch sprach keiner von beiden von den Verstrickungen und dem „Selbstgleichschaltungsprozess“ im Berliner "Göring Institut" während der Zeit des Nationalsozialismus. Es zeigte sich aber, dass die beiden Referenten die Verstrickungen mit ihren Haltungen und kontroversen Referaten auf dieser Tagung inszeniert hatten.
In einer eindrücklichen Videokonferenz aus Paris (Michael Balint, continuateur de Sandor Ferenczi) erinnerte die in Budapest geborene französische Psychoanalytikerin Judith Dupont, Herausgeberin von Ferenczis Werk, an Balints grundlegendes Referat auf dieser Tagung unter dem Titel „The evolution of goals and therapeutic techniques in psychoanalysis“. Einen Grundgedanken Ferenczis aufnehmend und weiterentwickelnd, hatte Balint damals über den Beziehungsaspekt in der analytischen Kur und die daraus folgenden theoretischen Veränderungen referiert. Ein Thema, so Dupont, das damals heftigste Konflikte in der psychoanalytischen Gemeinschaft ausgelöst habe – was einer Psychoanalytikerin, die in den letzten 20 Jahren ausgebildet worden ist, einen staunenden Einblick in diese Epoche der Psychoanalyse vermittelte.
Von Claus-Dieter Rath war zu erfahren, dass Lacan 1949 wieder über das „Spiegelstadium“ berichtete, nachdem er 1936 in Marienbad in seinem Referat über das gleiche Thema von Ernest Jones nach 10 Minuten unterbrochen worden war. Lacan hatte sich damals abgelehnt gefühlt und am nächsten Tag mit dem Reiseziel Berlin die Tagung verlassen. Es scheint, dass er dieses Mal, 1949, mehr Gehör fand – dennoch traten vier Jahre später die Lacanianer aus der IPV aus.
Über Melanie Klein, Herbert Rosenfeld und Paula Heimann referierte Beate Koch („Entwicklungen in der Psychoanalyse“: Der Beitrag der Gruppe um Melanie Klein zum ersten Nachkriegskongress). Mit dem zeitlichen Abstand von heute kann man vermuten, dass die Biographien der exilierten Analytiker in einem Zusammenhang mit den von ihnen vorgetragenen Themen standen. Eine negative Stimmung hatte das von Klein vorgebrachte Thema des Todestriebes ausgelöst. Rosenfeld beschäftigte die Psychopathologie von Verwirrtheitszuständen von Psychotikern, Spaltungen und exzessive Projektionen, kurz: Die Erfahrung jenseits der Worte. Heimanns Thema war die Gegenübertragung mit den Nuancen, die wir auch heute noch gerne bei ihr nachlesen.
Mit den Überlegungen zum Thema Die Forschungen von Hoffer und Spitz: Was bleibt nach 70 Jahren, was ist überholt? rundete Dieter Bürgin die Tagung ab. Was bleibt: Hoffer betonte schon damals die Wichtigkeit der Säuglingsbeobachtung und regte an, in der Rekonstruktion die frühe Kindheit mit der der aktuellen Situation zusammenzubringen. Spitz hatte in seinen Säuglingsuntersuchungen die Spannbreite und die Übergänge vom Vorsprachlichen zum Sprachlichen erforscht. Heute, so Bürgin, stelle sich die Frage etwa so: Was ist (alles) biologisch (pränatal, genetisch) präformiert und (was) wird in der Beziehung entfaltet?
In den Diskussionen nach den Referaten war zu beobachten, dass sowohl die Spezialisten und Kenner der Geschichte der Psychoanalyse als auch die Neuinteressierten und diejenigen, die die Tagung zum Anlass nahmen, sich über dieses Thema zu bilden, angeregt miteinander ins Gespräch kamen. Dies ist sicher den Veranstaltern für ihre kluge Komposition der aktuellen Tagung und den Referenten und Referentinnen zu verdanken, die der Zuhörerin und dem Zuhörer ihre Themenauswahl lebendig und vielschichtig nahe bringen konnten.
Interessant an dieser geschichtlichen Psychoanalyse-Tagung war, dass man sowohl über die äußeren biographischen Daten und persönlichen Eigenarten der damaligen Psychoanalytiker viel erfahren konnte, als auch darüber, wie sie mit ihren Themen, Konzepten und Theorien gerungen haben um diese zu vermitteln und zur kontroversen Diskussion zu stellen.
Nachdenklich als DPG-Mitglied hinterlässt mich das Referat über die Querelles allemandes: Besteht nicht die Gefahr, dass heute, 70 Jahre später, die DPG mit den Querelles actuelles durch die Frequenzdebatte ein zweites Mal das Momentum verpassen könnte, dass die DPG mit allen ihren Mitgliedern wieder Teil der IPV sein könnte? Jedenfalls wäre man mit unserem heutigen Wissen über die Psychoanalyse der vergangenen 70 Jahre an dieser IPA-Tagung 1949 retro-hörend gerne dabei gewesen. Diese Lust konnte die Tagung im Mai 2019 in Zürich vermitteln, die mit ihrem Titel sowohl auf eine schwere Vergangenheit als auch auf einen öffnenden Wiederbeginn verwies.
Regine Mahrer
Basel, 1. August 2019