„Auch wenn im Titel der 5. Psychoanalytischen Herbstakademie, die nach fünf intensiven Tagen am 30.09.2016 zu Ende ging, vom Schlaf der Vernunft die Rede war, so war wenig von Schlaf zu spüren. Stattdessen führten die spannenden Vorträge, dichten Arbeitsgruppen und das Beisammensein in den Mittagspausen, an denen man mit den Vortragenden und auch untereinander in persönlichen Kontakt kommen konnte, zu einem äußerst anregenden, vielfältigen und anspruchsvollen Gruppenprozess unter allen Teilnehmenden. Wieder waren es viele junge Menschen, Studierende, Ausbildungsteilnehmer auch Schülerinnen und Schüler, die sich vom Angebot der Herbstakademie angesprochen fühlten. Aber auch analytisch arbeitende Psychotherapeuten und Kollegen oder einfach an der Psychoanalyse interessierte Menschen nahmen teil. So hatte die Herbstakademie wieder etwas Intergenerationelles. Die analytische Vernunft schlief nicht! Stattdessen wurde intensiv zugehört, lebendig diskutiert und analytisch nachgedacht. Auch wenn die Thematiken von Krieg, Schuld, Gewalt, Perversion, Straftätern immer wieder die Ungeheuer und Dämonen in unseren Seelen thematisch aufleben ließ, mit denen schon Goya künstlerisch zu kämpfen hatte, so war der Austausch darüber lebendig und oft auch sehr persönlich. Immer wieder wurde deutlich, dass Psychoanalyse ohne Einbezug des Persönlichen nicht als Wissenschaft vom Seelischen funktionieren kann.
Nachdem die Herbstakademie 4 Jahre in Hamburg ein seitens des Hamburger DPG-Instituts wiederholt gut organisiertes Zuhause gefunden hat, wird sie umziehen und weiterwandern. Die 6. Psychoanalytische Herbst-akademie wird vom 04. – 07. Oktober 2017 in Heidelberg stattfinden und dort sicherlich eine vergleichbar gute Heimat finden, die ein weiteres Gelingen der Herbstakademie möglich machen wird. So manche Teilnehmerinnen und Teilnehmer der diesjährigen Herbstakademie werden sich auch dort wieder treffen, persönlich begegnen und sich über die Psychoanalyse und ihre Möglichkeiten austauschen“.
Wir laden herzlich ein zur 5. Psychoanalytischen Herbstakademie der Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft in Kooperation mit dem Arbeitsbereich Bildungs- und Transformationsforschung des Fachbereiches Erziehungswissenschaften an der Universität Hamburg, Prof. Dr. Hans - Christoph Koller.
Träumen wir nicht alle einen Traum von Frieden, Liebe und Gemeinschaft? Wieso kommt es dann zu Hass, Gewalt und Krieg? Was ist es, was aus vernünftigen Menschen kriegerische ‚Ungeheuer’ werden lässt? Geht es dabei um eine Pervertierung des eigentlich Guten im Menschen? Aus psychoanalytischen Behandlungen wissen wir, dass Vernichtungshass und Vernichtungsängste eine besondere Rolle spielen und dass die psychischen Folgen von Gewalt und Krieg für die nachfolgenden Generationen der Opfer wie der Täter gravierend sind. Wie steht es mit dem Hang zur Gewalt, zum Hass, zum Krieg und der Lust daran? Was ist mit der Scham und der Schuld dafür?
Diesen Fragen möchten wir in der Herbstakademie nachgehen und schauen, was die Psychoanalyse als Wissenschaft vom Unbewussten, als klinische Behandlungsmethode und als kulturtheoretisch fundierte Sozialpsychologie zu ihrer Beantwortung beitragen kann.
Als Psychoanalytiker*innen in Deutschland sind wir besonders mit den transgenerationellen Folgen des Faschismus, dem Krieg und der Vernichtung der Juden, von Minderheiten und Andersdenkenden beschäftigt. Diese Folgen können wir in Behandlungen bis heute, auch in der dritten Generation, beobachten. Ebenso werfen wir einen Blick auf den Rechtsextremismus und andere extreme Bewegungen.
Anhand von Falldarstellungen und Behandlungsbeispielen werden wir einen Einblick ins analytisch-klinische Arbeiten geben und zeigen, wie Hass, Krieg und Gewalt sich auch in psychischen Störungen und seelischem Leiden manifestieren.
Wir laden Sie alle ganz herzlich ein, über all das mit uns nachzudenken und darüber vermittelt, die Psychoanalyse besser kennenzulernen: neugierige Studierende der Psychologie und Medizin, aber auch aller anderen Fachrichtungen, interessierte Berufstätige, psychotherapeutische Kolleginnen und Kollegen, Teilnehmerinnen und Teilnehmer psychotherapeutischer Ausbildungen, eigentlich alle, die sich für die Psychoanalyse interessieren oder sich mit ihr auseinandersetzen möchten. Wir nehmen uns Zeit zur Diskussion und zum Gespräch mit Ihnen, zum Beispiel in den Kaffee - und den Mittagspausen, in denen wir Sie zu einem kleinen Imbiss einladen.
Wir freuen uns auf Ihre Teilnahme!
Ingo Focke, Vorsitzender der Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft (DPG)
und das Programmkomitee:
Gabriele Amelung, Gerhard Fuchs, Klaus Grabska, Inge Hahn, Martina Müller und Eckehard Pioch
DPG-Herbstakademie: Abstracts der Vorträge und Arbeitsgruppen
Montag, den 26.09.2016
1. Wulf-Volker Lindner: Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer (Goya) – der Traum der Vernunft Einsichten (Vortrag)
Dass die Vernunft eine dunkle Schatten- und Nachtseite hat, ist nicht erst Einsicht der Philosophie des 20. Jahrhunderts. So setzte unter vielen anderen zum Beispiel bereits der spanische Maler Francisco des Goya (1746 – 1828) diese Ahnung in seinem Kupferstich El sueno de la razón produce monstruos / Der Schlaf/ Traum der Vernunft gebiert Ungeheuer eindrücklich ins Bild. Er gehört zu der Bilderreihe der Caprichos (Einfälle), in denen sich Goya mit den Ambivalenzen und Grausamkeiten seiner Wirklichkeit auseinandersetzt.
Begonnen hatte Goya damit, als Maler die Wirklichkeit im Namen Gottes zu verherrlichen. Doch schon als Hofmaler begann er, die Personen der königlichen Familie nicht in hagiographischer Manier zu malen, sondern so, wie er sie in ihren Charakteren und ihrem Gebaren wahrnahm. Er entwickelte einen aufklärerischen Blick. Darum begrüßte er die Französische Revolution. Die Mehrheit der Spanier war noch immer vom Denken der Reconquista (Rückeroberung der christlichen Reiche) beherrscht und befand sich geistig zwischen Kirche und Aberglauben, zwischen Barocktheater und finsterer Inquisition. Als Napoleon Spanien besetzte und seine Armee ihre Gräueltaten verübte, wurde Goya erneut dazu genötigt, seine Hoffnung auf eine idealisierte Aufklärung zu begraben: Konflikt, Spannung, Dissonanz, Groteske und Grausamkeit begannen, seine Bilder zu prägen.
Das Bild El sueno de la razón produce monstruos liegt in mehreren Versionen vor. 1798 schafft er in Aquatitatechnik eine Radierung, die einen Mann zeigt, dessen Kopf auf einen Tisch gesunken ist. Der Kopf trägt Züge des Malers. Im Hintergrund ist das Gesicht des Mannes in Strichen angedeutet, einer Art Traumvision. Es ist von schemenhaft skizzierten Wesen und Figuren umgeben.
Wenig später führt Goya die Auseinandersetzung mit diesem Bild malerisch weiter und fertigt einen Kupferstich an. Er ist im Flyer der 5. Psychoanalytischen Herbstakademie abgebildet. In diesem Kupferstich verändert Goya die Motive der Szene deutlich. Das Gesicht des Malers im Hintergrund verschwindet. Der Tisch verschwindet hinter dem Plakat mit der Aufschrift El sueno de la razón produce monstruos. Auf dem Tisch liegt nun ein Pinsel, ein Stift und Papier. Die Nachtgestalten im Hintergrund werden deutlicher herausgearbeitet – Eulen, Fledermäuse und phantastische Vögel. Sie scheinen nun die dunkle Macht einer unheimlichen Naturgewalt zu betonen, die den Menschen im Schlaf hinterrücks bedrängt. Das Ausruhen der Vernunft treibt das Grauen hervor. Bei Goya ist es auch namen-, aber nicht bilderlos. Zu den Schrecken der Nacht gehören die Figuren der Phantasie, die im Kopf des Schläfers und in der Einbildung des Künstlers Kontur gewinnen. Die beiden unterschiedlichen Bedeutungen des spanischen Wortes sueno – Schlaf und Traum - scheinen hier gleichermaßen im Bild präsent. „Wenn die Vernunft schläft, so erheben sich die vor ihr im Wachzustand beherrschten Ungeheuer; träumt die Vernunft, dann bringt sie diese Ungeheuer aus eigener Kraft hervor und erlebt, dass sie selbst von fremden Mächten bestimmt wird.“ (Alt, S. 182) Schlafend erfährt die Vernunft, dass sie nicht „Herr im eigenen Hause“ ist, wie es Sigmund Freud später formulieren wird.
Es lässt sich nicht übersehen, dass von Goya Auseinandersetzungen vorweggenommen worden sind, die 100 Jahre später Sigmund Freud mit der Entdeckung der Psychoanalyseund im II. Weltkrieg Max Horkheimer und Theodor W. Adorno in ihrer ‚Dialektik der Aufklärung‘ zur Sprache gebracht haben.
Was Goya ins Bild gesetzt hat, soll in einem zweiten Teil in der Tradition der Überlegungen Freuds, Horkheimers, Adornos und ihres Kritikers Jürgen Habermas in seinen Grundzügen und Konsequenzen für eine angemessene Sicht des Menschen als Einzelnem und im Kontext von Gruppen und Gesellschaften in der Moderne beispielhaft bedacht werden. Ich werde einen Traum analysieren, über Kräfte in Gruppen und gesellschaftlichen Situationen sprechen, die sich wie der Einbruch des Wahnsinns in den Alltag ausnehmen, und last not least die Ansicht begründen, warum mir eine angemessene Sicht des Menschen und die Anstrengungen der kulturellen Bewältigung des Monströsen ohne die geschilderten Einsichten nicht möglich zu sein scheinen.
2. Lutz Götzmann: Erkannte Martin Heidegger das Reale? Über die Tücke des (deutschen) Traumas (Vortrag)
Am 27. Mai 1933 hielt Heidegger die berühmt-berüchtigte Rektoratsrede: „Zur Selbstbehauptung der deutschen Universität“, in welcher er sein Programm darlegte, das deutsche Volk mithilfe des NS-Regimes in eine revolutionäre Gemeinschaft zu verwandeln, die sich künftig dem Fragen nach dem Sein stellen sollte. Man kann die Rektoratsrede als performativen Akt verstehen, der in einer zutiefst lustvollen Weise auf das Präsentische und Anwesende des Seins abzielt. Das fundamental-ontologische Sein (Heidegger) und das persönlich-psychische Reale (Lacan) sind wesensverwandte Begriffe, die auf etwas Unbegreifliches hinweisen. So fällt die Antwort auf die Frage: „Erkannte Heidegger das Reale?“ zunächst leicht: Nein, denn das Reale lässt sich nicht erkennen. Jedoch haben sowohl das Sein wie das Reale einen Zug ins Präsentische, d.h. über ihre Vergegenwärtigung könnten sie doch erfahrbar werden. In seiner Rektoratsrede erhoffte Heidegger insofern ein philosophisches Projekt, mithilfe dessen er das deutsche Volk in die Nähe einer performativen Erfahrung des Seins hätte führen können. Allerdings war bereits damals abzusehen, dass dieser Weg in einem Abgrund enden wird. Die negative, wenn auch lustvolle Erfahrung des Realen wäre dann nichts anderes, ins Philosophische gewendet, als das Grauen des Seins. Möglicherweise hatte dieser Tanz auf dem Vulkan Heidegger veranlasst (neben seinem Hang zur Rechthaberei), die Erfahrung des NS-Realen später nicht widerruflich zu kommentieren, also in dem Sinne, dass er sich eben nicht geirrt, sondern das Reale und das Wesen des Seins vielmehr erkannt hätte. Darin läge die Tücke des deutschen Traumas und das Verführungspotential radikaler Bewegungen, auch und gerade für Intellektuelle.
Dienstag, 27. 9. 2016
3. Günter Holler: Die Perversion – ein Ungeheuer? Gedanken zu einem psychoanalytischen Konzept (Vortrag mit AG am Nachmittag)
Ausgehend von der schillernden Anziehungskraft der Perversion bei gleichzeitig stattfindender harscher Verurteilung, die sich in der Psychoanalyse vor allem anhand der Homosexualität aufzeigen lässt, sollen nach einem Exkurs in die bildende Kunst ausgewählte psychoanalytische Konzepte des psychoanalytischen Perversion- Begriffes dargestellt und mit klinischen Fallvignetten untermauert werden.
4. Mechthild Klingenburg-Vogel: Warum Krieg - oder wie krieg ich Frieden? (Vortrag mit AG am Nachmittag)
Zunächst referiere ich die auch heute sehr aktuellen Gedanken aus dem Einstein-Freud-
Briefwechsel von 1932 „Warum Krieg?“.
Dann skizziere ich grob meine Überlegungen zu den politisch-wirtschaftlichen, geostrategischen
Interessen und zu struktureller Gewalt am Beispiel des Klimawandels.
Danach versuche ich, individuelle Ursachen für Kriegsbereitschaft, besonders die Rolle von
Bindungserfahrungen, Erziehung und Gehorsam zu verstehen.
Ich setze mich mit Freuds Todestriebtheorie auseinander und mache einen Exkurs zu den
Grundlagen unserer Kultur.
Sodann behandle ich die Bedeutung von Gruppen- und Massenphänomenen, neuartigen
Kriegsstrategien (Geheimarmeen, Milizen, Terrorgruppen, Informationskrieg, Destabilisierung und
Regime Change) sowie auf sozialpsychologischer Ebene insbesondere den Einfluss kollektiver
Traumatisierungen auf die Großgruppen-Identität.
Mit der Erwähnung heilsamer Verarbeitungsmöglichkeiten von Traumatisierungen leite ich den 2.
Teil meines Vortrags, „Wie KRIEG“ ich Frieden?“, ein.
Ich diskutiere Kulturentwicklungen gegen den Krieg sowie Ergebnisse der Friedensforschung und
stelle die aktuell in New York beschlossenen „2030-Ziele für nachhaltige Entwicklung“ zur
Friedensförderung vor.
Mit dem Plädoyer für ein Internationales Gewaltmonopol einer neutralen UNO beziehe ich mich
auf die Vorschläge von Freud und Einstein.
Zuletzt frage ich, was jede und jeder von uns als Bürger und als Psychoanalytiker zur
Kriegsprävention beitragen könnte.
5.Vera Brüsewitz: Kampf und Flucht, der Krieg im Kopf – eine Falldarstellung (AG am Nachmittag)
Ich berichte über eine tiefenpsychologische Behandlung eines 30-jährigen Mannes. In einer Kampfsportfamilie aufgewachsen war er nach der Scheidung seiner Eltern und dem Zerfall seiner Familie mit 14 Jahren orientierungslos. Er brach die Schule ab, flüchtete sich in Drogen und Pokerspiel, entwickelte eine manisch-depressive Psychose. Zu mir kam er, als er nach zwei Entzugsbehandlungen bereits drogenfrei aber in einer schweren Depression war.
Ich werde den Behandlungsbeginn, die Entwicklung der Übertragung und Gegenübertragung aufzeigen und beschreiben, wie ich mit dem Patienten gearbeitet habe. Ich werde einen Einblick geben, wie ich z. B. seine Abwehr verstehe, die vor allem in der Ausbildung psycho-somatischer Symptome und exzessiven Sports – „meine gesündeste Sucht“ - bestand, und wie ich versuchte, seine Kreativität, die kurz auftauchte und wieder verschwand, zu würdigen und zu containen.
Im Anschluss an den Vortrag ist Zeit für eine Diskussion und Ihre Einfälle und Fragen zum Behandlungsverlauf und zur Behandlungstechnik.
6. Almut Rudolf-Petersen: Neue Übertragungskonstellationen (AG am Nachmittag)
Die sexuelle Orientierung der/des analytisch arbeitenden Psychotherapeuten*in – welche Rolle spielt sie für die Entwicklung der Behandlung? Seit (endlich) offen lesbische und schwule Bewerber*innen zur psychoanalytischen Ausbildung zugelassen und examiniert werden – an US-amerikanischen Instituten seit einer Antidiskriminierungsresolution vor 25 Jahren, an europäischen seit einigen Jahren, ohne solch eine klare Revision der bisherigen restriktiven Zulassungspraxis –, kann diese Frage mit ihren behandlungstechnischen Implikationen diskutiert werden. In der AG stelle ich von schwulen und lesbischen Analytiker*innen publizierte Behandlungsprozesse vor; daran anschließend ist Raum für Diskussion über die Relevanz spezifischer Einflussfaktoren, z.B. dem, dass die Patient*in von der Homosexualität ihres Analytikers weiß.
Mittwoch, 28. 09. 2016
7. Claas Happach: 'Geht's auch ohne?' Gewalt in der Psychiatrie aus psychoanalytischer Sicht (Vortrag)
Gewalttätiges Handeln gehört zur dunklen Seite der psychiatrisch-psychotherapeutischen Beziehung. Gleich, ob es vom Behandler oder vom Patienten ausgehend erlebt wird. Das Handeln tritt in den Vordergrund des Geschehens, Nachdenken, Abwägen und sprachliche Verständigung sind ausgesetzt.
Der Vortrag wirft einen Blick auf den gesellschaftlichen, rechtlichen und ethischen Rahmen und beschäftigt sich unter einer entwicklungspsychologischen Perspektive und Bezugnahme auf die psychoanalytischen Konzepte der Mentalisierungsfunktion und des Enactments mit dem interpersonellen Geschehen in der Behandlung schwerer psychischer Erkrankungen.
8. Hans – Jürgen Wirth: Versuch, das radikal Böse zu verstehen(Öffentlicher Vortrag am Abend)
Wie werden aus normalen jungen Männern Massenmörder? In der Genozid-Forschung stehen sich zwei Erklärungsansätze diametral gegenüber: Während der eine von Hannah Arendts Diktum der »Banalität des Bösen« ausgeht und in den Handlungen der brutalsten Massenmörder nur das Verhalten von »ganz normalen Menschen« (Harald Welzer) sieht, die sich konform zur herrschenden Tötungsmoral verhielten, führt der entgegengesetzte, psychoanalytisch fundierte Ansatz die gleichen Handlungen auf den »bösartigen Narzissmus« (Otto Kernberg) zurück, der auch als Ausdruck des Todestriebes interpretiert werden kann. Hans-Jürgen Wirth diskutiert beide Theorien als relevante Erklärungsansätze und unternimmt den Versuch, sie in einer sozialpsychoanalytischen Theorie kollektiver Identitäten und kollektiver Traumata zu integrieren.
Donnerstag, 29. 9. 2016
9. Angela Moré: Im Schatten der Schuld. Psychische Belastungen bei den Nachkommen von Tätern und Täterinnen (Vortrag)
Schon seit vielen Jahren ist bekannt, dass Nachkommen von Tätern und Täterinnen unter dem Eindruck leiden, dass sich ihre Eltern oder Großeltern schuldig gemacht haben, selbst wenn sie keine konkreten Informationen darüber haben, worin diese Schuld bestand. Bereits in den 80er Jahren führte der israelische Psychoanalytiker Dan Bar-On Gespräche mit Söhnen und Töchtern von Nazi-Größen und erlebte bei ihnen eine Vielfalt von Reaktionen und Umgangsweisen mit diesem psychischen Erbe. Die Bandbreite reichte von verzweifelter Leugnung und Irritation über schmerzvolle Anerkennung der Schuldbeteiligung bis zu vollkommener Abwendung vom Elternhaus und dessen Vergangenheit. Von den Schuld- und Schamgefühlen, mit welchen häufig die Kinder von Täter/innen reagieren, werden später wiederum die Enkel betroffen, die durch eine oft unbefangenere Zuwendung der Großeltern in der Kindheit in Loyalitätskonflikte zwischen Eltern und Großeltern geraten oder sich für ihre Zuneigung schuldig fühlen.
Diese Zusammenhänge gelten nicht nur für Nachkommen von NS-Täter/innen, sind hier jedoch am intensivsten erforscht und eröffnen richtungweisend Perspektiven für die Aufarbeitung von kollektiven wie familiären Schuldkonflikten auch in anderen kulturellen Zusammenhängen. Teilweise eröffnen sie auch Einsicht in die Folgen der Nichtaufarbeitung der Vergangenheit auf individueller wie gesellschaftlicher Ebene.
10. Christoph Bialluch: Entgegen aller Vernunft? Versuch über das „freiwillige“ Ziehen in den Krieg (Vortrag mit AG am Nachmittag)
Eine Untersuchung darüber, warum ein Krieg geführt wird, sollte eigentlich die geschichtlichen, ökonomischen und geopolitischen Gründe und dann die Strategien analysieren, mit denen die Bevölkerung eines Landes auf den Krieg vorbereitet wurde. Darüber hinaus gibt es aber auch das „freiwillige“ Ziehen in den Krieg, ein sowohl individual- wie massenpsychologisches Phänomen, das schon Alfred Adler, Sigmund Freud u. a. seit dem Ersten Weltkrieg beschäftigt hat. Beispiele dafür sind die Kriegsbegeisterung zu Beginn desselben oder auch der Zulauf junger Männer zur SS während des Zweiten Weltkriegs.
Heute zeigt sich das Phänomen bei uns auf eine besondere Weise. In etwa 800 junge Menschen – davon ungefähr ein Fünftel Frauen – sind von Deutschland aus in den sogenannten Islamischen Staat ausgereist. Sie geben ihr scheinbar sicheres Leben hier auf, um für den IS – in welcher Form auch immer – zu kämpfen. Die Sicherheit, die der IS geben zu können vorgibt – einen Platz, eine Aufgabe im Staat, ein Einkommen, einen Ehemann bzw. Ehefrauen, auf der Seite der guten Gläubigen zu stehen, deutliche Urteile darüber, was richtig und falsch ist – hat für manche eine ungeheure Anziehungskraft, die angesichts des religiösen Fundamentalismus und der archaischen Geschlechterrollen geradezu »anti-aufklärerisch« erscheint und so wenig zum Bild eines demokratisch fortschrittlichen Deutschlands passt, das viele von uns sehen möchten.
Hinzu tritt noch für diese jungen Menschen die Möglichkeit, verspürte – womöglich diffuse – Aggressionen gegen sich, gegen ihre Eltern und ihre Gesellschaft ideologisch gerechtfertigt kanalisieren zu können, ihnen sogar einen „höheren“ Sinn zu verleihen.
Das Erschreckende daran könnte sein, dass es möglicherweise einen Versuch darstellt, mit dem nicht verstandenen eigenen Leid, gegebenenfalls dem seiner Eltern oder Großeltern, aber auch dem in der Gesellschaft herrschenden Leid umzugehen, nämlich es zu bekämpfen.
Es stellt sich die Frage nach den Innenwelten dieser Menschen, die auf derartige ideologische Angebote eingehen und bereit sind, ihr Leben dafür aufs Spiel zu setzen.
11. Inge Hahn: Das Erbe der Vergangenheit – Transgenerationelle Auswirkungen traumatischer Kriegserfahrungen (AG am Nachmittag)
Anhand der analytischen Behandlung einer Patientin aus der Generation der „Kinder des Wirtschaftswunders“, deren Eltern Flüchtlinge aus Westpreußen waren, zeigt die Referentin einen Generationentransfer psychischer Inhalte der Eltern auf die Patientin auf. Im Vordergrund stehen die unbewussten Identifizierungen mit einem „Überlebendenschuldgefühl“, der Geschichte der Eltern „entlehnter Gefühle“ und einer besonderen narzisstischen Bindung durch die Übernahme einer „Containerfunktion“ für das seelisch unverarbeitete traumatische Erleben der Elterngeneration.
12. Markus Feil: Taten Täter Therapien - Psychotherapie mit Straftätern(AG am Nachmittag)
Gesellschaften gehen unterschiedlich mit Kriminalität um. Bestrafung ist eine historisch alte gesellschaftliche Praxis, das Angebot von Psychotherapie für Straftäter eine historisch eher junge. In dieser Arbeitsgruppe werden Aspekte des Rahmens forensischer Psychotherapien in Deutschland und theoretische wie praktische psychoanalytische Ansätze des Verstehens und der psychotherapeutischen Behandlung von Menschen, die Straftaten gesetzt haben, dargestellt. Es folgt ein Fallbeispiel, durch das die Verzahnung individueller, intrapsychischer mit sozialen (institutionellen und gesellschaftlichen) Dynamiken beschrieben wird. Hierbei wird die praktische Relevanz bestimmter psychodynamisch-systemischer Modelle („Tavistock-Modell“; „group relations“) aufgezeigt: Am Individuum ansetzende, forensische Psychotherapie kann nach diesem Modell nur wirksam werden, wenn sie konzeptuell in institutionelle und gesellschaftliche Praxen eingebettet wird.
Freitag, 30. 9. 2016
13. Erda Siebert, Johannes Pfäfflin und Peter Pogany-Wnendt (Arbeitskreis für Intergenerationelle Folgen des Holocaust, Ehem. PAKH e.V.): Die Wiederherstellung zerstörter zwischenmenschlicher Verbundenheit nach dem Holocaust
(Jüdisch-deutsch-deutscher Dialog) (Vortrag)
Der Holocaust bewirkte einen Bruch in den zwischenmenschlichen Beziehungen zwischen den Tätern und Opfern, der sich auch auf die nächsten Generationen auf unbewusste Weise destruktiv auswirkte.
Der Genozid, die Kriegsfolgen sowie die Auswirkungen von Flucht und Vertreibung haben sowohl individuell als auch kollektiv verhängnisvolle Folgen, wenn sie verschwiegen und unverarbeitet weiter tradiert werden. In unserer öffentlichen Kultur der jüngeren Generation ist ein großer Bedarf nach Auseinandersetzung mit Gleichgesinnten zu beobachten, die keine Chance hatten, das verbreitete Schweigen bei Eltern und Großeltern zu durchbrechen. Dieses hinterlässt tiefe Gefühle von Trauer, Schuld und Scham, die nicht zugeordnet und verstanden werden können.
Die Vortragenden werden, ausgehend von ihren individuellen Geschichten und ihrem persönlichen jüdisch-deutsch-deutschen Dialog, Wege der Wiederherstellung der zerbrochenen zwischenmenschlichen Beziehungen und des Umgangs mit den schwierigen Gefühlen aufzeigen.
14. Klaus Grabska: Das schuldige Ich: Ist Wiedergutmachung möglich? (Vortrag)
Wer kennt nicht die Verzweiflung und Panik, wenn man geträumt hat, etwas grundlegend Schlimmes getan zu haben und die Frage nicht beantworten kann, ob man es wieder gut machen kann? Georg Keuschning ist es im Roman “Die Stunde der wahren Empfindung“ von Peter Handke passiert. Wie wird er diese rein seelische Schuld bewältigen? Können wir uns von Schuldproblematiken befreien oder sind wir ihnen irgendwie immer ausgeliefert? Was ist, wenn wir sowohl Täter wie Opfer sind? Wie gestaltet sich die Schuldproblematik in psychoanalytischen Behandlungen, aber auch im Gesellschaftlichen? Können uns psychoanalytische Konzepte wie das des Bedauerns und der Wiedergutmachung weiterhelfen? Diesen Fragen soll im Vortrag auf anschauliche wie reflektierte Weise nachgegangen werden.