Liebe Frau Kreuzer-Haustein,
es ist ein paar Wochen her, dass ich Ihre Mail mit dem Gedankenanstoß zu Covid-19 gelesen und aufbewahrt habe. Ihr Text hat etwas angestoßen, das ich zunächst noch nicht fassen konnte.
Ich habe auf die Erfordernisse des vergangenen Jahres mit einer irgendwie stoischen Position des Standhaltens reagiert: Zunächst waren die große Angst und die Unsicherheit auszuhalten, dann die Wirrungen der Corona-Regeln; ich kaufe Desinfektion und Masken, entschied mich, keinen Luftreiniger anzuschaffen, sondern saß mit offenen Fenstern in Winterluft. Ich habe die gesicherte Videoverbindung eingerichtet und erlebe immer wieder schockartige Irritationen, weil ich plötzlich nicht sicher bin, über welchen Zugang ich vom Patienten erwartet werde: Video? Festnetz? Handy? Oder doch Präsenz?
Ich weiß, dass alle KollegInnen in dieser Weise beschäftigt sind, wir unterstützen und versichern uns verlässlich in verschiedenen Foren, das war und ist mir ein Halt.
Durch Ihre Mail steigt ein anderer Gedanke in mir auf: Wenn sich meine stoisch anmutende Position des Standhaltens wieder aufweichen kann, (wie) verändern meine Erfahrungen des vergangenen Jahres meine analytische Arbeit?
Ganz aktuell bin ich mit dem Wunsch einer Patientin befasst, die ihre Sitzung seit einem Jahr überwiegend telefonisch durchgeführt hat und dieses Setting nun beibehalten möchte.
Die Patientin erlebte das Corona-Jahr als eine Zeit der Befreiung – plötzlich gab es in Begegungen eine geregelte Distanz und das entlastete sie von ihrer Verantwortung für die Gestaltung ihrer Begegnungen. Sie wünschte einen telefonischen Kontakt und in dem entwickelte sich, für uns beide überraschend, unsere Arbeit viel lebendiger und lustvoller.
Nun sind wir beide 2x geimpft und die Rückkehr zu unserem ursprünglichen Setting ist wieder möglich.
Meine Patientin möchte jedoch weiterhin telefonieren; sie fühle sich selbstbewusster, mehr auf Augenhöhe mit mir und das mache unsere Zusammenarbeit für sie befriedigender. Ich dagegen vertrete das Realitätsprinzip, möchte in Präsenz mit ihr arbeiten und so nach Wegen suchen, wie die Patientin in der Welt mit ihren Kapazitäten auftauchen kann.
Aktuell arbeiten wir mit einem Kompromiss: 3 x Telefon, dann eine Sitzung in Präsenz. Für mich ist dieses Setting (kann man das überhaupt so nennen?) Neuland und stellt mich vor die Frage, was ich da tue? Agiere ich mit, wenn ich dem Lustprinzip folge und die Realität beschränke? Oder wäre es ein Agieren meines analytisch vorwurfsvollen Überichs, den Wunsch der Patientin nach einem innerlich angstfreieren Kontakt zu mir, abzulehnen? Arbeiten wir dann hybrid und was bedeutet das in unserer Beziehung?
Vielen Dank Ihnen, Frau Kreuzer-Haustein, für den Raum, den Sie zur Verfügung stellen, um diese Gedanken mitteilen zu können! Und ebenso danke ich den KollegInnen in München für die Idee, diesen Fragen auf der nächsten DPG-Jahretagung zu folgen.
Mit herzlichen Grüßen aus Münster,
Sabine Warneke