Covid-19 hat unser soziales Leben und unser analytisches Arbeiten innerhalb eines Jahres in einem noch nicht abzuschätzenden Ausmaß verändert. Dokumente aus Vor-Corona-Zeiten (Fotos, Filme) mit Menschen, die eng beieinander sind, sich umarmen, zusammen Musik machen oder sich nur die Hand geben, betrachten wir mit Irritation und Staunen, manchmal auch Sehnsucht, oder reagieren vielleicht sogar ängstlich und verschreckt. So schnell hat ein Virus Macht über unser gewohntes Alltagsverhalten bekommen und signalisiert täglich: die Nähe zu anderen Menschen ist gefährlich. Der Körper, der Atem, das Sprechen des Anderen, mein eigener Körper, mein Atem und mein Sprechen sind potentielle Überbringer einer gefährlichen Erkrankung.

Das Virus lauert überall und ist erst „dingfest“ zu machen, wenn wir erkranken. Eini­ge Autoren verweisen auf seine Unheimlichkeit (Küchenhoff 2020, Triest 2021). Covid-19 ist in seiner bedrohlichen, allgegenwärtigen Invasivität ein unheimliches Objekt im Sinne des von Freud beschriebenen Unheimlichen als „das ehemals Heimi­sche, Altvertraute“ (Freud GW XII, S.257), was „im Verborgenen hätte bleiben sollen“ (S.254), weil es uns an unsere Urängste erinnert, die uns von Beginn unseres Lebens bestimmen und mit Ohnmacht und Hilflosigkeit einhergehen: der Tod, ein spukendes Haus, der „böse Blick“ eines Menschen, die panische Angst, wenn wir uns im Nebel verlieren und unser Unbewusstes, dessen Existenz uns dem Schrecken aussetzt, die Herrschaft über unser Handeln und unsere Gefühle verlieren zu können.

Wir können uns so gut es geht vor diesem Virus schützen, doch die Angst bleibt. Wir wissen nicht, was passiert, wenn Analytiker und Patienten sich nach wie vor live be­gegnen, auch wenn der Sessel weit von der Couch abgerückt, Luft-/Virenfiltergeräte Einzug gehalten haben und der Analytiker seine Patienten im weitestmöglichen Ab­stand begrüßt, beide eine FFP2- Maskenverkleidung auf sich nehmen und dennoch versuchen, etwas von der Gestimmtheit des Anderen aufzunehmen.

Wenn beide vereinbart haben, zu telefonieren oder sich per Video zu sehen und sich dadurch ein völlig anderes Setting etabliert, gibt es Patienten, die so sehr die körper­liche Präsenz, die vertraute Couch brauchen, dass sie es vorziehen, eine auch lange Pause in Kauf zu nehmen. In einer Behandlung („The Case of J“ aus dem International Journal, s.u.) erlebt der Patient den Telefonkontakt als „better as nothing“, fühlt sich aber so, als ob er in ein Vaccum spricht („I am speaking into a vacuum. We are speaking through a tube.“) Anderen Patienten ermöglicht der telefonische Kontakt auf ihrer eigenen Couch zu Hause eine größere Freiheit, mehr als sonst über ihre erotischen Wünsche und ihre Sexualität zu sprechen, weil sie sich sicherer fühlen als auf der Praxiscouch, auf der die körperliche Nähe zum Analytiker mit Gefahren libidinöser und aggressiver Trieb­wünsche einhergeht. Wieder andere erleben die Stimme des Analytiker in ihrem Ohr wie ein sehr intimes Geschehen, ein unangenehmes Eindringen oder, wieder anders, wie eine beruhigende Lautmelodie, die an die frühe Zeit unserer Entwicklung erinn­ert und Spuren von Wohlbehangen und Sicherheit mit sich bringt.

In allen Varianten, egal ob das analytische Paar live oder per Telefon (oder auch Vi­deo) arbeitet, ist der analytische Rahmen angegriffen und geht mit Irritation und Un­sicherheit einher, so dass der Analytiker zurzeit in besonderem Maße gehalten ist, den inneren Rahmen (Bleger)zu halten.

Das Virus eignet sich als Projektionsfläche für unbewusste Ängste und kann gleich­zeitig die Übertragungsbewegungen wie durch ein Brennglas verstärken. Ein Patient, der eine Analytikerin vor etwa zwei Jahren wegen zermürbender Ängste aufsuchte, ständig etwas falsch zu machen, Frauen mit seinen Zärtlichkeiten zu bedrängen, Schaden durch Ansteckung (z.B. Aids) anzurichten, ist nun durch das Virus in Alarm­stimmung und gleichzeitig entlastet, weil er die von außen auferlegten Kontaktbe­schränkungen sorgfältig einhält und so von den Gefahren intimer Kontakte befreit ist: sie sind verboten. Doch er ist auch irritiert, weil er nicht mehr weiß, ob er mit seiner außerordentlich strengen Einhaltung der Regeln seinen Ängsten vor Beschädi­gung aus dem Weg geht, indem er sich - bis auf den Live-Kontakt zur Analytikerin - eine strikte Kontaktsperre auferlegt hat, verbunden mit massiven Einsamkeitsein­brüchen und Wut. Gleichzeitig erweist sich die nun entstandene Exklusivität der Be­ziehung –die Analytikerin ist die einzige Begegnung – als eine Situation, in der die Übertragungsbewegungen hochaufgeladen sind: die bis dahin bereits bearbeiteten Ängste, der Analytikerin mit seinen ödipalen Sehnsüchten zu schaden, sind nun dringlich im Raum, ebenso die Wut und Angst, auf sie ganz und gar angewiesen zu sein und von ihr, nicht vom Virus, eingesperrt zu werden. Die Analytikerin, das Be­handlungszimmer werden zum Sehnsuchtsort für Intimität und sind gleichermaßen eine Falle.

Wenn das Unheimliche vor allem Hilflosigkeit und Ohnmacht in uns evoziert, so kann eine Reaktion darauf die Verleugnung sein. Die Angst vor dem Unheimlichen kann so groß sein, dass sie die halluzinatorische Beschwörung hervorbringt: das Virus gibt es nicht. Es ist (z.B.) eine bösartige Erfindung der Mächtigen, um uns zu entmündigen und zu manipulieren („Corona-Diktatur“). Diese Konstrukte individueller und kollek­tiver Angstbewältigung sind nicht nur bizarr, sondern politisch besorgniserregend, weil Anhänger von Verschwörungstheorien: die „Querdenker“, die radikale QAnon-Bewegung mit ihren massenpsychotischen Botschaften, ebenso einige der radikalen Impfgegner zu einem großen Teil von rechtsradikalen, antisemitischen und fremdenfeindlichen Ideolo­gien überzeugt sind. Individuen und Gruppen, die sich mit Kampfbegriffen „Fake News“ und „Corona-Diktatur“ lautstark Gehör ver­schaffen und sich wie Helden und Rebellen zum Schutz der Menschenrechte insze­nieren, führen zu schockierenden Verzerrungen unserer Geschichte, wenn Demonstranten sich einen Davidstern mit der Aufschrift „ungeimpft“ anheften oder wenn sich wie in Hannover während einer Querdenker-Demonstration gegen die Corona-Politik eine Teilnehmerin selbstvergessen als Sophie Scholl des 21.Jahrhunderts insze­niert.

Die Existenz des Virus anzuerkennen und nicht zu verleugnen, ebenso die Realität, dass trotz schneller Produktion mehrerer Impfstoffe die nächste Bedrohung durch die Ausweitung diverser Mutationen auf uns zukommen wird, ist für uns alle eine große Herausforderung. Sie kann auch weiterhin dann annähernd gelingen, wenn wir uns der enormen medialen Möglichkeiten bedienen, um im Kontakt zu bleiben. Das letzte Jahr hat gezeigt, dass Solidarität und Kreativität nicht nur wunschgeleitete Floskeln sind, sondern dass tat­sächlich Individuen und Gruppen mit Literaturlesungen, weltweiten Musik- und Tanzevents, Video -Konferenzen oder einem Outdoor-Chorsingen für Bewohner von Altenheimen dem erzwungenen Rückzug etwas entgegenzusetzen vermögen. Den­noch können diese medialen Kontakte Live-Begegnungen nicht ersetzen und sind nur begrenzt tauglich, unsere Ängste vor der Unheimlichkeit von Covid-19 zu mildern.

Bleiben wir im Kontakt. Schreiben Sie uns Ihre Gedanken zu Covid-19.

Bitte an kreuzer.haustein@gmail.com senden.

Reaktionen von Mitgliedern auf den Beitrag zur Covid-19-Pandemie

Literatur- und Homepagebeiträge

Biss, E. (2016) [2014]: Immun. Über das Impfen – von Zweifel,  Angst und Verantwortung. München (Hanser).

The Case of J: Working as Psychoanalyst during the Pandemic (2020). Die Analytikerin bleibt anonym und stellt einen Patienten vor mit einem Stundenprotokoll aus der Zeit vor und zwei Stunden während der Pandemie. Dazu gibt es Kommentare von Francis Gier, Bernard Chervet, Lena TH. Ehrlich und Abbot A. Bronstein. Int J Psychoanal 101, 769 – 804.

Auf der Homepage der DPV gehen drei Kolleg/innen in einem IPV-Webinar der Frage nach: „Können wir angesichts der Covid19-Pandemie von einem neuen Unbehagen in unserer Kultur sprechen?“ Iliana Giorgie, Joachim Küchenhoff und Marianne Leuzinger-Bohleber stellen Beiträge vor, die sie unter der Moderation von Heribert Blass diskutieren.

Heimerl, B. (2020). Das Coronavirus. Überlegungen zu einem bedrohlichen Fremdkörper. Forum Psychoanal 36, 319-331.

Auf der Homepage der IPV sind mehrere Beiträge zu Covid-19 zu lesen, u.a. von Piotr Krzakowski, einem französischen Kollegen, der auch Mitglied der deutsch-franzö­sischen Gruppe unserer Gesellschaft ist. Er hat den vom „International Journal of Psycho­analysis“ ausgeschriebenen Preis zum Thema Covid-19 gewonnen.

Krzakowski, P. (2021): Covid-19 in V Acts. Int J Psychoanal 102, 139-158.

Küchenhoff, J. (2020): Die Arbeit im und am Unheimlichen: Die Coronakrise und die psychoanalytische Kur.  Forum Psychoanal 36, 361-373. (siehe auch: Mitgliederrundschreiben der DGPT 3/2020, 26-33.)

Lear, J.: Transience and hope: A return to Freud in a time of pandemic. Int J Psychoanal 102, 3-15.

Levine, H.B., de Staal, A. (Ed.) (2021): Psychoanalysis and Covidian Life. Common Distress and Individual Experience. Phoenix Publishing House Ltd, Bicester, Oxfordshire.

Perelberg, R.J. (2021): The Empty Couch. Love and Mourning in Times of Confinement“. Int J Psychoanal 102 16-30. Unter dem gleichen Titel hat Perelberg auf der Homepage der EPF einen Film kreiert. Er ist eine „...homage of the British Psychoanalytical Society to frontline workers of the National Health Service (NHS), and to the solidarity expressed by psychoanalysts during these difficult times“.

Triest, J. (2021): Das Virus des Schreckens. Psyche-Z Psychoanal 75,165-171.

Dr. disc. pol. Ursula Kreuzer-Haustein,

Göttingen, 26.1.2021