Dr. Vera Kattermann, Vortrag am IPB 22.01.20

 

„Rechtsextremismus – ein gesellschaftliches „Borderline-Phänomen?

Öffentlicher Vortrag von Dr. Vera Kattermann in der Reihe „Is anybody out there?“ am Institut für Psychoanalyse Berlin (IPB) am 22.01.2020

Rechtsextremismus ist nicht nur ein politisch hoch aktuelles Thema, sondern auch eines, um dessen Verständnis wir heute wieder neu ringen. In Deutschland verweisen wir gern auf das psychoanalytische Konzept der "Wiederkehr des Verdrängten“. Doch wirft diese Erklärung im Hinblick auf die in vielen Ländern beobachtbaren politischen Extreme und Spaltungen nicht mehr Fragen auf als sie beantwortet? Ist Rechtsextremismus möglicherweise auch als eine Art "gesellschaftliches Borderline-Syndrom" zu verstehen? Und wenn ja, worin bestünde die "Heilung"?

Diesen Fragen widmete sich die Berliner Psychoanalytikerin Dr. Vera Kattermann, die sich in mehreren Publikationen mit kollektiver Vergangenheitsbearbeitung beschäftigt hat, v.a. am Beispiel Südafrikas und in Bezug auf den Nationalsozialismus. Schon der in diesem Zusammenhang geprägte Begriff einer „Metabolisierung der Vergangenheit“ zielte auf ein Verständnis gesellschaftlicher Dynamiken, das über ein aufklärerisches Bewusstwerden oder gar –machen hinausgeht. Entsprechend mied sie stigmatisierende oder pathologisierende Begrifflichkeiten, mit denen die beunruhigenden Befunde unserer Zeit vielleicht benannt, jedoch kaum gebannt oder gar verstanden werden können. Denn böse sind immer die anderen. Was aber, wenn wir mit „denen“ nicht nur in einem Boot sitzen, sondern auch mehr teilen als uns lieb ist? Wenn dies keine pseudotolerante Beschwichtigungsgeste ist, wie können wir uns dem annähern und das Gemeinsame wie auch das Trennende in den Blick kriegen?

Beginnend mit Kuhlenkampf und der quasi (selbst-)therapeutischen Funktion der frühen Showmaster für eine Schuld und Scham verleugnende deutsche Bevölkerung zeigte sie, dass gesellschaftliches Durcharbeiten auf vielen Ebenen gleichzeitig stattfindet - und wie es vorrangig agiert wird. Dies sollte man weniger denunzieren als zu verstehen versuchen, was wiederum erfordert, einen eigenen Platz in dem Spiel einzunehmen. Als Therapeuten haben wir keine aufklärerische Deutungshoheit, wohl aber können wir aus unserer Position sprechen und so mit einen Beitrag leisten für die gesellschaftlich notwendige Verdauungsarbeit. Als Björn Höcke mitten in einer Talk Show eine Deutschlandfahne ausbreitete, reagierten die anderen zunächst sprachlos, wie paralysiert – vor Scham? Ein geteilter Affekt, aus dem man erst nachträglich heraustreten kann. Heute genügt ein Blick ins Internet, um sich zu überzeugen, auf wie vielen Ebenen dieser Geste begegnet wurde

Entsprechend relativiert sich dann auch die im Titel suggerierte Borderline Diagnose zu einem analytischen Blick auf gesellschaftliche Umwälzungen. Frau Kattermanns These: Die moderne „Flexibilisierung der Psyche“ wird von vielen als Überforderung erlebt und führt zur Labilisierung. Wie schon die Studien zum autoritären Charakter zeigten, kommt autoritären Strukturen dann eine quasi haltende, stabilisierende Funktion zu. Hierin ähnlich dem „negativen Container“ um den es im November bei dem Vortrag von Frau Zienert-Eilts gegangen war. Gemeinsam ist der Befund einer Regression der Mentalisierungsfähigkeit auf ein psychisches Strukturniveau, das sich mit radikalen Positionen behelfsmäßig repariert. Aus analytischer Sicht gelte es die fördernden Bedingungen zu entdecken, die wieder ein psychisches Funktionieren mit höherer Kohärenz erlauben.

Im Anschluss entwickelte sich eine kontroverse Diskussion über eben diese „Heilungspotenziale“. Aus dem klinischen Alltag schien kaum jemand rechtsextreme Patienten zu kennen, Erschöpfung angesichts der Verständigungsschwierigkeiten konnten dagegen viele berichten – Erfahrungen, die gewissermaßen Vera Kattermanns These bekräftigen, dass weniger rationale Überzeugungsarbeit oder die richtige Deutung uns viel weiter helfen als das Einlassen auf die Lebenswelt der anderen, und die damit verbundene Hoffnung, dass im lebendigen Kontakt und Auseinandersetzung eher Kohäsion als Spaltung befördert wird. Andererseits wurde hier auch eine Hilflosigkeit deutlich, die nicht weiter verwundert, wenn man sich die notwendige Begrenztheit der Parallelen von Individualpsyche und Gruppe vergegenwärtigt. Kommt es doch wiederum einer Überforderung gleich, mit einer noch so gut gemeinten Haltung die Wucht und Dynamik gesellschaftlicher Prozesse auffangen zu wollen.

Wolfgang Wäschle, Berlin