In Memoriam
Anne-Marie Sandler
Anne-Marie Sandler ist am 25. Juli 2018 gestorben.
Sie wurde am 15. Dezember 1925 in Genf als Tochter der jüdischen Familie Weil geboren. Ihr Vater Otto Weil stammte aus Berlin, ihre Mutter Hildegard Oberdorf aus Hamburg. Dank des Großvaters wanderte die väterliche Familie bereits 1907 aus Deutschland aus und konnte dadurch den Holocaust in der Schweiz überleben. Alle Verwandte mütterlicherseits wurden wahrscheinlich ermordet.
Der Vater, der spätere Geschäftsführer eines bekannten Genfer Kaufhauses, lernte die Mutter, eine Französischlehrerin, während eines Aufenthalts in Hamburg kennen und lieben. 1921 zog sie zu ihm in die Schweiz und beide heirateten. 1922 wurde Anne-Marie Sandlers Bruder geboren, 3 Jahre später sie selber.
Das Jüdisch-Sein spielte in Anne-Maries Kindheit erst ab 1933 eine besondere Rolle. Der Vater erklärte den Kindern, dass ein böser Mann namens Hitler die Macht in Deutschland ergriffen hätte und jüdische Menschen verfolgen würde. Deswegen sollte in der Familie kein Deutsch mehr gesprochen werden. Da die Großeltern nur Deutsch sprachen und Anne-Marie Sandler die deutsche Sprache sehr mit der Mutter verband, installierte sich durch das väterliche Gebot und dessen Gründe schon früh ein gespaltenes Verhältnis zum Deutschen. Beide Eltern engagierten sich in der Flüchtlingshilfe und kümmerten sich um jüdische Kinder, die von ihren Eltern zur Sicherheit in die Schweiz geschickt worden waren. Da Anne-Marie Sandler die Verzweiflung dieser Kinder miterlebte, aber die Zusammenhänge noch nicht verstehen konnte, erlebte sie eine prägende Erfahrung von Verwirrung und tiefer Verunsicherung.
Anne-Marie Sandler studierte in Genf Psychologie. Von 1947 bis 1950 war sie Assistentin bei Jean Piaget und Bärbel Inhelder. Die Zusammenarbeit mit diesen Pionieren der kognitiven Entwicklungspsychologie und die mit ihnen verbundene kosmopolitische Atmosphäre bekam ihr gut. Unter ihrer Anleitung führte sie für die UNESCO eine Studie über Heimatgefühl und Fremdheitsverstehen von Kindern durch. In diese Zeit fällt der tragische und plötzliche Tod ihres geliebten Bruders Gérard. Er hatte sich in Palästina dem jüdischen Kampf um einen eigenen Staat angeschlossen und wurde bei der Entschärfung einer Straßenbombe im März 1948 getötet. Die ganze Familie war davon zutiefst getroffen. Anne-Marie Sandler entschied sich, eine persönliche Psychoanalyse zu machen. Sie ermöglichte ihr, den Verlust besser zu betrauern und Selbstvertrauen zu entwickeln.
Unterstützt durch eine Freundin und auf Anraten von Ludwig Binswanger fasste sie den Entschluss nach London zu gehen und sich psychoanalytisch auszubilden. Von 1950 bis 1954 absolvierte sie die kinderanalytische Ausbildung an der Hampstead Clinic, dem späteren Anna Freud Center. Ihre Lehranalytikerin war Augusta Bonnard, die sie als hilfreich, aber manchmal auch als hart und abweisend erlebte. Nach Abschluss ihrer Ausbildung 1954 arbeitete sie am Child Department des St. George's Hospital und beteiligte sich an einem Forschungsprojekt mit blinden Kindern.
Auf einer Party im Kollegenkreis war ihr ein mit starkem ausländischen Akzent Deutsch sprechender Kollege aufgefallen. Es war der ebenfalls aus einer jüdischen Familie stammende, 1927 in Cape Town / Südafrika geborene Joseph Sandler. Bereits mit 25 Jahren qualifizierte er sich 1952 zum Psychoanalytiker der British Society. Anne-Marie und er heirateten 1957. Beide verband eine private wie beruflich wechselseitig bereichernde Partnerschaft, die auch noch über den Tod von Joseph Sandler am 06. Oktober 1998 hinaus präsent war. Sie haben drei Kinder, Joseph Sandlers Tochter Trudy aus erster Ehe, sowie Catherine und Paul. Insgesamt folgten bis heute noch sieben Enkel und drei Ur-Enkel.
Von 1965 bis 1968 durchlief Anne-Marie Sandler ihre Ausbildung zur Psychoanalytikerin in der British Psychoanalytical Society (BPAS). Ihre Lehranalytikerin war die aus Ungarn stammende jüdische Analytikerin Edith Ludowyk - Gyömröi, die ausgebildet am Berliner Psychoanalytischen Institut 1933 Mitglied der damaligen Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft geworden war, aber 1934 emigrieren musste.
Anne-Marie Sandler eröffnete eine psychoanalytische Praxis in London, die sie - wohl nur unterbrochen von einer Zeit 1979/1980 in Israel, als ihr Mann die Freud-Professur an der Hebrew University of Jerusalem innehatte - bis ein paar Jahre vor ihrem Lebensende fort führte, und wurde Lehr- und Kontrollanalytikerin. Sie engagierte sich in bedeutenden psychoanalytischen Institutionen und Vereinigungen - als Vorsitzende der Europäischen Psychoanalytischen Förderation/EPF (1983 - 1987), als Vorsitzende der Britischen Psychoanalytischen Vereinigung/BPAS (1990 - 1993), als Direktorin des Anna Freud Centers (1993-1996), als Vize-Präsidentin der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung/IPV (1993 - 1997) und als erste Vorsitzende des IPA Child and Adolescent Psychoanalysis Committee/COCAP (1997), für dessen Gründung sie sich sehr eingesetzt hatte.
1998 wurde Anne-Marie Sandler mit dem äußerst renommierten Sigourney Prize for Outstanding Achievement in Psychoanalysis ausgezeichnet. In demselben Jahr erschien fünf Monate vor Joseph Sandlers Tod das den sieben Enkeln gewidmete, zusammen mit ihm geschriebene Buch "Internal objects revisited" (1999 deutsch "Innere Objektbeziehungen"). Darin werden wesentliche Essentials des stark klinisch orientierten, aber immer metapsychologisch reflektierten psychoanalytischen Gedankengebäudes der beiden Sandlers zusammengefasst dargestellt, z. B. die Konzepte des Sicherheitsgefühls, der Wahrnehmungsidentität, der Role Responsiveness sowie der Aktualisierung.
Es kann bis heute als eine ambitionierte freudianische Antwort auf die Schule Melanie Kleins angesehen werden, in der die klinische Psychoanalyse ebenfalls um die Perspektive des inneren Objekts erweitert und neu gedacht wurde. Dazu gehört auch die Unterscheidung zwischen dem Gegenwarts- und Vergangenheits - Unbewussten, mit der die Freudsche Unterscheidung des topischen und strukturellen Unbewussten eine fruchtbare Weiterentwicklung erfährt. In mehr als 40 Publikationen hat Anne-Marie Sandler, zum großen Teil mit ihrem Mann, versucht, eine zeitgemäße freudianische Perspektive im psychoanalytischen Diskurs zu behaupten.
In ihrer klinischen Arbeit war der entscheidende Dreh- und Angelpunkt der für alles weitere zentrale Bezug zum inneren Kind, das durch den Analysanden selbst und seine Übertragungen, aber auch durch die Gegen-Übertragungen des Analytikers 'spricht' und nach jemand sucht, der es 'hören', mit seinen Verletzungen annehmen und seine Beziehungswünsche verstehen kann.
Von 1991 - 2016 ließ sie uns in den jährlich stattfindenden kasuistisch-technischen Konferenzen, aber auch in zahlreichen Supervisionen mit Kolleginnen und Kollegen der DPG an ihren großartigen Fähigkeiten teilhaben, psychoanalytisches Verständnis lebendig zu praktizieren und auf deutende und nicht-deutende Weise ein in die Tiefe reichendes Gefühl von Verstanden-Werden zu vermitteln. Für den psychoanalytischen Diskurs in unserer Gesellschaft war ihre Art der kasuistischen Arbeit ein bedeutender Gewinn und ein wertvoller Beitrag dazu, sich stärker mit den internationalen Standards analytischen Arbeitens auseinanderzusetzen.
Für die DPG war es ein großes Glück, dass Anne-Marie Sandler, die 1997 Ehrenmitglied der DPG wurde, uns als psychoanalytische Gesellschaft wohlwollend und tatkräftig bei dem schwierigen und langen Weg in die Internationale Psychoanalytische Vereinigung unterstützt hat. Ihre Stimme hatte in der internationalen Psychoanalyse ein besonders großes Gewicht. Ohne ihr hingebungsvolles und überzeugendes Engagement hätte der Prozess, der 2001 zur Aufnahme als Provisional Society und 2009 als Component Society führte, nicht erfolgreich abgeschlossen werden können. Auch nach Innen wirkte sie als Vorsitzende erst des Facilitating Committees, dann ab 2001des Liason - Committees der IPV - zusammen mit Inga Villareal, John Kafka, André Haynal und Sverre Varvin als weiteren internationalen Kommissionsmitgliedern - strukturbildend darauf hin, eine den IPV-Standards entsprechende IPV-Ausbildung in der DPG zu etablieren.
2015 erhielt sie seitens der Europäischen Psychoanalytischen Förderation (EPF) den Award for a Distinguished Contribution to Psychoanalysis.
Mit Anne-Marie Sandler haben wir eine langjährig engagierte Begleiterin und herausragende Förderin der Entwicklung unserer Gesellschaft als Ganzer und sehr vieler einzelner Mitglieder der DPG verloren. Die Begegnung mit ihr war grundsätzlich bereichernd, in der klinischen Arbeit und in persönlicher Hinsicht. In vielen Fällen entwickelten sich aus kollegialen Beziehungen persönliche Bindungen und - zum Teil langjährige - Freundschaften. Ihr Tod bedeutet einen Verlust für die ganze psychoanalytische Gemeinschaft. Sie verkörperte die Psychoanalyse auf eine humane und wahrhaftige Weise und konnte ihren Mitmenschen das Gefühl geben, etwas Besonderes oder sogar Einzigartiges mit ihr zu teilen.
Wir gedenken ihrer in tiefer Dankbarkeit und allergrößter Wertschätzung.
Klaus Grabska
Vorsitzender der DPG