DPG Jahrestagung 2016 in Stuttgart
Die DPG veranstaltet jährlich wissenschaftliche Tagungen für die Fachöffentlichkeit, die Mitglieder der Gesellschaft und die Ausbildungsteilnehmer an den regionalen Ausbildungsinstituten. Die nächste Tagung findet in Stuttgart statt.
Einladung zur Jahrestagung
Liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Gäste,
die Deutsche Psychoanalytische Gesellschaft lädt Sie herzlich zu ihrer Jahrestagung 2016 mit dem Thema „heimatlos“ nach Stuttgart ein.
‚Un-heimlich‘ bestürzt und fassungslos-verstört in Anbetracht der uns näher rückenden Kriege und des Terrors suchte die Vorbereitungsgruppe nach einem Zugang, um sich mit den Ursachen und Folgen von Vertreibung, Entwurzelung, Verlust von Vertrauen und von Geborgenheit auseinander zu setzen und wir fragten uns mit Jean Améry: „Wieviel Heimat braucht der Mensch?“.
Viele Millionen Menschen sind heimatlos und auf der Flucht. Wir werden an Zerstörungen, Leid und Vertreibungen erinnert, die von Deutschland ausgingen, und denken an den Zusammenbruch 1945, in dessen Gefolge Millionen Vertriebene eine neue Heimat suchten. Diese historischen Erfahrungen sind in vielen Familien als psychisches Erbe eingeschrieben und werden wieder lebendig. Inzwischen haben Flüchtlingsbewegungen auch Mitteleuropa erreicht und schaffen in Deutschland eine ganz neue Situation. Der Empfang ist sehr unterschiedlich. Mitgefühl und eine große Hilfsbereitschaft zeigen Sicherheit und Einfühlungsvermögen der hier Ansässigen, aber den Flüchtlingen schlagen auch Ablehnung und Feindseligkeit entgegen. Auf eine allen innewohnende Repräsentanz des Fremden werden Wünsche und Hoffnungen projiziert, ebenso alles, was im eigenen Inneren unakzeptabel ist und Angst macht.
Flüchtlinge bringen ihre Gewalt- und Todeserfahrungen mit, werden als „ Boten des Unglücks“ bekämpft, aber auch als Mutige beneidet. Dabei sind Vertreibung, Flucht, Exil und Auswanderung Teil der Geschichte der Menschheit, und „heimatlos“ zu sein ist eine anthropologische Grundkonstante. „Heimatlos“ muß nicht nur mit Verlust, Trauer, Schmerz, Trennung, Traumatisierung, Destruktivität und Verunsicherung verknüpft sein. Heimat-los zu sein, wird auch mit Hoffnungen auf einen Neuanfang, auf Entwicklung und auf die Verwirklichung der eigenen Träume verbunden.
Für die Deutsche Psychoanalytische Gesellschaft – wieder beheimatet in der IPV– ist die Beschäftigung mit Heimatlosigkeit in besonderem Maße belastet und die Begrifflichkeit selbst umstritten. Viele Psychoanalytiker mussten vor der Verfolgung durch die Nazis ins Exil fliehen. Die Psychoanalyse wurde aus Deutschland verbannt, kam selbst ins Exil und fand in anderen Sprachen eine neue Heimat.
„Heimat“ hat einen spezifisch deutschen Assoziations-Kontext, der durch eine romantische Verklärung im 19. Jahrhundert, den Missbrauch in Nazideutschland und die Heimatvertriebenenverbände genährt wird. Wir stoßen einerseits auf ein sentimentales Bild von Herkunft, welches deutliche Zeichen einer nachträglichen Zuschreibung trägt und in sich rückwärtsgewandt ist, wie in der Vorstellung von einer „guten Zeit“, die es nie gegeben hat. Andererseits finden wir eine Sehnsucht nach Zugehörigkeit, Vertrautheit und Sicherheit, die in die Zukunft gerichtet wird.
Die Entwicklung eines Vertrauens in sich selbst und das Leben ist störanfällig. Viele Menschen begegnen in sich selbst einem Gefühl von Fremdheit, Verlorenheit und Angst, bleiben zeitlebens auf der Suche nach Sicherheit und Geborgenheit, geben sich auf oder ziehen sich zurück, z. B. in eine Sucht, oder sie verlieren ganz den Bezug zu ihrer Welt, wie in einer Psychose, in autistischen Zuständen oder einer schweren Depression. Es geht also nicht nur um den Verlust einer „äußeren Heimat“, sondern um die Entwicklung eines Sicherheitsgefühls, die Regulierung des seelischen Gleichgewichts, die Folgen schwerer Traumatisierungen und Defizite und um ihren Niederschlag in den menschlichen Beziehungen. So spannt sich der thematische Bogen der Tagung weit und berührt empirische Kulturwissenschaft, Begriffsgeschichte, Entwicklungspsychologie, Identitätsfragen, Geschlechtszugehörigkeit, transgenerationelle Weitergaben, interkulturelle Verständigungen, das Schicksal von Flucht, Vertreibung, Exil und Migration über Generationen hinweg und die Suche nach Heimat in der Fremde.
Wir wollen mit Ihnen Erfahrungen aus der klinischen Arbeit austauschen und diskutieren, und wir wollen nachdenken über die eigene Geschichte, über unsere Institutionen und über die innere Bearbeitung der gegenwärtigen Umwälzungen.
Am Donnerstagabend wird ein Festakt zu Ehren des 90. Geburtstags unseres Ehrenmitglieds Annemarie SANDLER stattfinden. Ihr verdankt die DPG die Überwindung von Grenzen und viele fruchtbare Verbindungen.
Anschließend um 20:15 Uhr wird Feridun ZAIMOGLU eine öffentliche Lesung aus seinem letzten Roman „Siebentürmeviertel“ halten, in dem es um die Identitätsentwicklung eines mit seinem Vater nach Istanbul geflohenen deutschen Jungen während der Nazizeit geht. Feridun ZAIMOGLU begründet in seinem schriftstellerischen Werk eine selbstbewusste Subjekthaftigkeit des Ausgegrenzten und beschreibt, wie das Wandern zwischen den Kulturen bereichern kann.
Ingo Focke, Vorsitzender der DPG
Gerhard Salzmann, Vorsitzender der AG Stuttgart
für die Vorbereitungsgruppe: Annegret Dieterle, Jürgen Keim