Heimat ist kein Ort, sondern ein Gefühl

- das war eine der vielen Annäherungen an einen ambivalenten Begriff, die bei der Jahrestagung der DPG zum Thema „heimatlos“ in Stuttgart vom 5. bis 8. Mai zu hören waren, eine vielfältige, interessante Tagung bei schönstem Mai-Wetter. Hatte die Vorbereitungsgruppe der Tagung anfangs noch gezögert, das Thema „heimatlos“ zum Gegenstand zu machen, so erwies es sich nun als überaus anregend und berührend. Die hochaktuelle gesellschaftspolitische Seite wurde z. B. benannt durch den Gedanken, dass „Parallelgesellschaften eine Voraussetzung der Integration sind“ und nicht eine Verhinderung derselben (Anna Leszczynska-Koenen). Vorstellungen von „Geschlossenheit und Reinheit“ dagegen versuchen ängstlich, Statisches zu zementieren und verhindern das Schaffen einer „Heimat als Erfahrungsbewegung, die sowohl Trauer als auch Neues ermöglicht“. Das Leben selbst kann als „unausweichliche Migration“ verstanden werden, vor allem aus der Perspektive ständiger Trennungen, die schon mit der Geburt beginnen. Mario Erdheim zeigte mit der überspitzten These „Jugendliche sind Flüchtlinge“ (nämlich aus der eigenen Familie) auf, wie Jugendkulturen die „Fähigkeit des Menschen, neue Heimaten zu schaffen“ verdeutlichen, indem dort mit neuen Identitäten experimentiert wird. Eine kulturgeschichtliche Perspektive mit „Umbuchungen“ von Heimat aus dem Religiösen ins Politische und schließlich ins Psychologische führte zu der Aufforderung (Karla Hoven-Buchholz): „Machen wir uns von der Heimat los und sichten wir die vor uns liegenden Aufgaben!“ Heimat kann man sich psychoanalytisch nur nähern, wenn man auch eine Distanz dazu einnimmt. 

 

Friedemann Schmoll, ein empirischer Kulturwissenschaftler, untersuchte im Dialog mit zwei analytischen Kollegen (Annegret Dieterle und Jürgen Keim) den Heimatbegriff und verwies auf seine Kontaminierung durch das Abrutschen in nationalistische Ideologien. Der schillernde Begriff Heimat bewege sich „zwischen Glück und Verbrechen“. Dass Heimatlosigkeit, Vertreibung und Exil auch zentral für die Psychoanalyse sind, machte Michael Pavlović deutlich: die DPG sei als eine Gesellschaft, die zwei Drittel ihrer Mitglieder während des Nationalsozialismus vertrieb, in deren Folge selbst eine „traumatisierte Organisation“. Dieses Thema klang bereits am ersten Abend der Tagung in einem Podiumsgespräch zwischen dem Vorsitzenden der DPG, Ingo Focke, und Annemarie Sandler, London, an, ein Gespräch zu Ehren ihres 90. Geburtstag im Dezember 2015. Es war ein Stück persönliche, aber auch Organisationsgeschichte der DPG, da die DPG Anne-Marie Sandler eine reiche klinische und politische Unterstützung auf dem Weg in die Internationale Psychoanalytische Vereinigung verdankt, aus der sie nach dem Krieg bis 2009 ausgeschlossen war. Wie wir über die Macht des Unbewussten immer wieder unsere Heimatsehnsuchtsorte aufsuchen, das illustrierte Annemarie Sandler mit einer Anekdote aus ihrem Leben: obwohl sie vor einigen Jahren in London lange nach einem bestimmten Wohnungstyp gesucht hatte, entschied sie sich plötzlich und überzeugt für eine ganz andere Art von Wohnung, was ihre Töchter irritierte. Erst später stellte sich heraus, dass diese scheinbar „ganz andere Wohnung“ im Schnitt der Wohnung ihrer Kindheit in Genf glich, in der sie sich heimatlich wohl gefühlt hatte. 

 

Sehr berührend ins Unbewusste und Konflikthafte führte ein klinischer Vortrag von Joshua Durban aus Israel zum Thema „Homelessness and Nowhereness“, in dem er zwischen dem Verlust von Heimat und dem „Nirgends-Sein“ differenzierte, ein Zustand, der von archaischen Daseinsängsten (z. B. vor Zerfall) geprägt ist. In einer Filmanalyse befasste sich Ilany Kogan (Israel) mit dem Film „Hitlerjunge Salomon“ (1990), eine Analyse, die der Gruppe, die diesen Film zuvor angesehen hatte, half, die Erschütterungen in Worte zu fassen, die dieser Film auslösen kann. Sverre Varvin aus Norwegen (vgl. das Interview auf dieser Seite), der über jahrzehntelange Erfahrung in der Arbeit mit Flüchtlingen verfügt, zeigte das Schreckliche und Persönlichkeitszerstörende von Krieg, Folter, Vertreibung und Flucht auf, aber auch, wie mit tiefer Menschlichkeit und vor allem mit einer psychoanalytischen Haltung, in der der Therapeut vorsichtig und respektvoll an den Rändern des Traumas arbeitet, auch in kürzeren Therapien geholfen werden kann. Varvin sieht die Heimat „in den mütterlichen oder väterlichen Armen“. Die Hörer waren sehr berührt. Varvin plädierte dafür, analytisch und beziehungsorientiert zu arbeiten und nicht ins „Machen“ zu verfallen wie es in den sog. Traumatherapien geschieht.

Viele Vorträge fanden lebhafte Resonanz in engagierten Diskussionen und wurden angereichert mit neuen Gedanken, die ganz zeitgemäß auch ins Virtuelle führten. So erzählte eine junge Diskutantin von einer besonderen Definition von „Heimat“: „Heimat ist, wo dein WLAN automatisch einloggt.“ Ingo Focke schloss die bewegenden Tage mit der Bemerkung, dass es dieser großen Gruppe gelungen sei, einen Raum für’ s Nachdenken offen zu halten und dass wohl bei vielen Teilnehmern innerlich eine Selbsterfahrung mit dem Thema stattgefunden habe. Es folgte der Dank an alle, die die Tagung organisiert und zum Gelingen beigetragen haben – in erster Linie Gerhard Salzmann als dem Hauptverantwortlichen, Eva Gerlach als der organisatorischen Leiterin und dem Geschäftsführer Thilo Eith aus Berlin. Last not Least: Ein besonderes Schmankerl präsentierte Feridun Zaimoglu, ein deutsch-türkischer Schriftsteller, am ersten Abend im Rahmen einer öffentlichen Lesung. Jeglicher Versuch einer Schilderung würde dem Original nicht gerecht werden, deshalb sei auf folgenden Link verwiesen: Weiterlesen....