Christoph Türcke

 

Werner Balzer

Denn das Denken ist nichts als des Schrecklichen Wandlung.
Zu C. Türckes Genealogie des Mentalen im Zeitalter seiner medialen Selbstzersetzung*

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, lieber Christoph Türcke!

Erstmals verleihen heute DPV und DPG den Sigmund-Freud-Kulturpreis. Geehrt wird Professor Dr. Christoph Türcke, der beharrlich die mancherorts totgesagte Psychoanalyse in solitärer Wahlverwandtschaft kulturtheoretisch begleitet und kontrapunktiert hat. Erwählt zu sein ist aber alles andere als harmlos. Und wer wüsste  besser als unser Preisträger, dass wir einige zehntausend Jahre ritueller Selbstzähmung gebraucht haben, der Umkehrungund der Wieder-Holung, um von der Ergreifung des Opfers zur Preisung des Laureaten, zur unblutigen Erwählung also, zu gelangen. Aber Sie sehen, lieber Herr Türcke, es funktioniert, die versammelte Menge nutzt manierlich, was Sie das mühselig erwirtschaftete mentale Sitzfleischnennen und rottet sich nicht zum Kreis. Kein Gekreisch erhebt sich, kein Trommeln als Übertönungund Doppelung altsteinzeitlichen Daseinsschreckens in halluzinatorischem Theater. Menschwerdung durch Umkehrung von Angst und motorischer Flucht zum Bleibendurch mimetische Gutheißung des Schrecklichen, welches in der Opferungrituell dramatisiert, gestaltet wird; zunächst wilde Wieder-Holung des Grauens in actuals Vorform von Repräsentation, Er-Innerung und Idealität - hier sind wir schon mittendrin. Aber der Reihe nach.

Die Biographie Chistoph Türckes könnte man rückblickend wie ein unaufhaltsames Mäandern hin zur Psychoanalyse sehen. Wir ehren heute mehrere Türckes, die unter einem Dach hausen, sich gut verstehen und sich gegenseitig befragen: den Theologen, den Philosophen, den spekulativen Anthropologen und, ja, auch  den Psychoanalytiker, der in klinischen Diskussionen ein bestechender Exeget ist. In einträchtiger Federführung figurieren diese dann als psychoanalytisch inspirierter, religionsphilosophischer Kulturwissenschaftler. Aus der Geburtsstadt Hameln führte ein Studium der evangelischen Theologie in Göttingen, Tübingen, Frankfurt und Zürich 1972 zur Ordination als Pfarrer in Zürich, gefolgt von der Promotion als Philosoph in Frankfurt 1977, wo er zeitweise auch als Religionslehrer an einem Gymnasium unterrichtete; sodann arbeitete er neun Jahre als wissenschaftlicher Assistent für Theologie und Religionspädagogik an der Hochschule in Lüneburg. Nach der philosophischen Habilitation 1985 in Kassel war er dort zehn Jahre Privatdozent für Religionsphilosophie, aber auch Gastregisseur am jungen Theater in Göttingen. Er versteht eine Menge von performativen Bilderszenen, genannt Theater! Seit 1993 lehrt er als Professor für Philosophie an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig und an der dortigen Universität, seit 1991 ebenso als Gastprofessor an mehreren brasilianischen Universitäten.

An dieser Stelle muß ich Sie leider auf das unvermeidliche Scheitern an meiner heutigen  Pflicht vorbereiten. Denn es ist aussichtslos, sein Werk in Kürze würdigen zu wollen. Ich nenne: „Der tolle Mensch. Nietzsche und der Wahnsinn der Vernunft“ (2000)“,  „Erregte Gesellschaft. Philosophie der Sensation“ (2002), „Vom Kainszeichen zum genetischen Code. Kritische Theorie der Schrift“ (2005), ferner Schriften zum Fundamentalismus, zum Heimatbegriff (2006), sowie natürlich die „Philosophie des Traums“ aus dem letzten Jahr sowie deren theologische Anwendung in „Jesu Traum. Psychoanalyse des neuen Testaments (2009). Sein winziges musiktheoretisches Juwel „Zurück zum Geräusch. Die sakrale Hypothek der Musik“ (2001), vielleicht eine Wegmarke in seinem Denken, enthält die Denkfigur, welche in den folgenden Jahren ausgearbeitet wird zu einer Verschränkung von anthropologischer Mentalisierungstheorie mit Kulturkritik. Sein dialektisches Panorama reicht von den sakralen, rhythmischen Geräuschanfängen als einschwörender, übertönender Opferbegleitmusik auf Knochen, Fell und Horn über die  melodiösere religiöse Sphäre, sodann die scheinbare Emanzipation zur Kunstmusik bis hin zur regressiv wiederverkörperten, reeskalierten  Klanggewalt in Rhythmus und Geräusch, nicht nur in Rap und Techno.

Im Einklang mit Freuds berühmten Diktum, wonach das Ich „vor allem ein körperliches“ sei (1923 b, S. 253), ist Verkörperung, durchaus biologische „Physio-Logik“, Basis seiner Kulturanthropo­logie, ihr Quellcode aber eine spekulative Theorie des Opferns, genauer: der allmählichen Transformation des Opferns in Geistigkeit. Das Opfern steht am Anfang der Hominisation, der unendlich langwierigen Metamorphose tierischen Schreckens durch Umkehr des Fluchttriebs  vermittels Wieder-Holung zum denkbaren Gedanken. Dieser verdankt sich letztlich der unerhörten Wende, angesichts schrecklicher Erfahrung bleibenzu können, wenn auch zunächst mit blutigen Gestehungskosten. Kein Tier macht das.[1]“Das Wahrzeichen der Menschwerdung ist das Menschenopfer“ (Türcke 2009, S. 153). Wo immer der Mensch aus vorgeschichtlichem Dunkel auftaucht, macht er nicht nur bei der Bestattung der Seinen mehr Umstände, als zum Wegschaffen toter Körper nötig wäre; er opfert auch. Leider, würde Türcke wahrscheinlich sagen. Ganz im Gegensatz zu R. Girard (z.B. 1997) und dessen Theorie des kulturstiftenden, gewaltbindenden Opferns eines auserwählten Sündenbockes, der als „versöhnendes Opfer“ die Gruppe einigt und reinigt und zumindest auf spätere Heiligung hoffen darf. Vermutlich stellt die Gründungsgewalt mit dem Sündenbockmechanismus eine sehr wichtige, aber reifere Form des Opferns dar, allerdings mit Zügen einer nobel katholischen, retrograd in die Altsteinzeit verlängerten Christologie. Auch Türcke würde nicht widersprechen, in der griechischen Tragödie – sie ist längst fortschrittliche Repräsentatioim Gegensatz zum präsentischen raptusartigen Massakrieren – das mühselig kulturell weichgespülte uralte Opfern zu erkennen. Aber zunächst setzt er viel früher an als Girard, dort, wo es noch keine Sünde gibt und keine Schuld, weil noch gar kein Bedeutungsraum existiert, kein Schaltplan, keinerlei metaphorische Dimension, sondern nur der nackte Daseinsschrecken, Naturgewalten, gefährliche Tiere. Bejahung und besonders Verneinung sind noch nicht entwickelt und deshalb menschliches Urteilen kategorial unmöglich. Das rohe Opfern ist nicht diskursiv, sondern  anfangs reine Mimesis an traumatischer Naturgewalt. Das Opfer selbst wird nicht aus der Gruppe ausgestoßen, sondern in den traumadoppelnden Exzess hineingestoßen.  Die Opfernden sind kein Chor, kein gruppales Überich, sondern, psychoanalytisch gesprochen, in archaischer Identifikation mit, besser: im Zustand der Doppelungeines noch namenlosen Aggressors, der später einmal, besänftigter, genius lociheißen wird und als idealisierte Schutzmacht zum festen religiösen Inventar werden kann. Also nicht Sühne durch Projektion alles Schlechten in einen vermeintlich Schuldigen, der „hinwegnimmt die Sünden der Welt“, sondern traumatischer Wiederholungszwang als Brennstoff uranfänglichen Denkens. Die grauenhafte Ängstigung eines empfindlichen Nervensystems, alles, was mit einem glücklichen Ausdruck von E. Tabak de Bianchedi  (2005, S.1533)„subthalamischen Terror“ erzeugt, muß durch schreckliche Wiederholung in sakralen Riten und Räumen gutgeheißen, geheiligt, abgearbeitet und  kulturell anverwandelt werden. Das dauert vieltausendjährig und es dauert an, denn in allen Riten als sozialen „Containern“ (wie E. Haas das nennt; 1999 (2002, S. 115)) zittert noch der Opferritus nach, die beruhigte Schreckgewalt. Und plötzlich versteht man Freuds dunkle Bemerkung, wonach „das Ich sein Über-Ich aus dem Es schöpft“ (1923 b, S.267)  wie von selbst. Und auch, dass das „Unbehagen in der Kultur“ infolge ertragener Versagung, Innenwendung der Aggression,  depressiver Position, kurzum: das Quantum des kulturnotwendigen Masochismus – nicht zuletzt eine Magerstufe des Opfern ist.

Kultur ist ja recht eigentlich ein Verzögerungsraum. Für Türcke entsteht sie in einer langwierigen, störanfälligen Deeskalation und Desomatisierung, in ritueller Polsterung der anthropologischen und individuellen Affektkatastrophen, als ein gattungsgeschichtlich dünner Firnis auf den blanken Nerven, als ein  symbolisches Gewebe, das sich auftrennt, je mehr die mediale Reeskalation heute wieder Bedeutung durch Erregung ersetzt. Zurück zu frei zirkulierenden, maximierten Reizbarkeiten unter medialer Totalkolonisation der Körper; zurück zum Geräusch, zum Nervengeräusch, in agierter Performance, durch bildgestützte Vergleichzeitigung statt geschichtlicher Linearität der Schrift. Reflexivität als mühsam und wohltuend abgefedertes Reflektorisches löst sich im Verlust symbolischer Distanzen, der Mittelbarkeit, der Mitteilbarkeit, wieder auf in die brutale Unmittelbarkeitdes Tumultes des Sensorischen in medialem Dauerbeschuß: „Sentio ergo sum“. Hiervon handelt Türckes  Buch „Erregte Gesellschaft“  und er hat dafür viel einstecken müssen, besonders die wohlfeile, weil garantiert argumentfreie Ernennung zum Kulturpessimisten.Tatsächlich hat niemand so prägnant wie er die seit den siebziger Jahren  abgerissenen Fäden zwischen kritischer Gesellschaftstheorie und Psychoanalyse wieder angeknüpft, nun aber nicht in der Tradition des „autoritären Charakters“ (das ist lange passé), sondern in Form eines emergierendenTypus, den man geradezu alssensoritären Charakterbezeichnen möchte, dessen Ich wieder an sensorisch erregbare Oberflächen wandert und der immersiv im medialen Feld  navigiert, ohne sich um die Kategorien von Sinn und Bedeutung allzu sehr zu scheren.

Als Psychoanalytiker müssen wir ja naturgemäß sich verändernde Konstitutionsbedingungen von Subjektivität im Auge  behalten. Vermutlich haben sich  diese kaum jemals so rasch ge­wan­­delt  wie in den letzten zwanzig, rasant elektronifizierten Jahren. Deswegen - und weil die Haut embryologisch und kulturell vielleicht die interessanteste aller Oberflächen ist - vorweg ein Wort zu Türckes Buch „Vom Kainsmal zum genetischen Code. Kritische Theorie der Schrift“. Es ist eine aufregende Lektüre in einer Zeit der „neuen Leiden“, der epidemischen Selbstverletzungen, in der die Grafitti von den Wänden als Tattoos auf die Körper gewandert sind, der telegenen Idolatrien und Superstarsuchen, der prosperierenden Schönheitschirurgie, die ein tatsächlich am eigenen Körper exekutiertes Bildbearbeitungsprogramm sind, um schließlich den heiligen, zivilreligiösen Idolen zu gleichen, deren mediale Abbilder allesamt selbst schon am Computer bildbearbeitet sind. Türcke entziffert das Kainsmal als allerersten Buchstaben der menschlichen Alphabetisierung, als Schnitt, Durchbohrung der ersten aller Schreibflächen, der menschlichen Haut, und zwar als Schuldmal und Schutzmal, denn wer geopfert und sich der Gottheit zugeeignet hat, ist tabuwie Kain; Schrift begann als Kult und fällt in Schriftkult zurück, aus der Entdinglichung durch Schrift wird wieder Verdinglichung des Denkens, die Schrift als bedeutungsvergessene Sache selbst, wie er kritisch an Deleuze, Derrida, der Sakralisierung des genetischen Codes oder elektronischer Hypertexte zeigt. „Alle Schrift ist zwar Spur, aber nicht jede Spur Schrift“, lautet der kritische Bescheid an Derrida (Türcke, 2008, S. 127). Die mühsam dem Sakralen abgedungene profane Schrift steht vor einer erneuten idolatrischen Heiligung unter Aushöhlung des Bedeutens. Gottes Tod ist also ohne hundertfach aus dem Boden schießende Götzen nicht zu haben. Und auch der Teufel scheint sich still und heimlich in viele Unterteufel zerlegt zu haben, die aufgeklärter Transparenz und Qualitätsmanagement trotzen. Türcke hält dem verneinten Religiösen die Treue, indem es in der Kritik seiner medialen Zersetzungsprodukte im besten hegelschen Sinne aufgehoben ist.

Zurück zur Psychoanalyse und Türckes Traumbuch mit den drei Großkapiteln „Traum – Trieb – Wort“, in dem er nichts weniger unternimmt als eine mentale Gattungsgeschichte mit Hilfe freudianischer „Werkmeister“ – Verschiebung und Verdichtung. Eine Archäologie in zwei Richtungen, nämlich der Mentalisierung und der, ich erlaube mir den Ausdruck: zeitgenössischen Mentolyse oder Mentalysierung. Wie geht das zu?

Ich würde sagen: vermittels eines zweifachen, wachsamen und glücklichen Stolperns in Freuds Texten. Zum erstenist da Freuds Kunstgriff in „Jenseits des Lustprinzips“(1923 g), der zur Neuformulierung einer dualen Triebtheorie führte. In den nächtlich wieder geträumten grausigen Versehrungen der Kriegstraumatisierten konnte selbst Freud schwerlich eine Wunscherfüllung ausmachen. Kunstgriff: um das Lustprinzip zu retten und  gleichzeitig sein Lieblingskind, den Traum als Wunscherfüllung, zog Freud, durchaus noch zweifelnd, die Reißleine und schlug sich unter Hypostasierung der Todestriebe in die Büsche der Thermodynamik unter dem Preis eines Kategorienfehlers. Denn hier verließ er psychologisches Hoheitsgebiet. Als Motor eines Motivationssystems bleibt der Todestrieb problematisch (vgl. Kernberg 2009)[2]. Diesseits eines Glaubensaktes kann er nämlich – so wertvoll er als Metapher, als klinischer Hilfsbegriff sein mag -  bis heute nur physikalisch expliziert werden: als Vektor in Richtung immer größerer universaler Wahrscheinlichkeit, also Einebnung von Information, der als entropische Tendenz nicht nur dem irrwitzig unwahrscheinlichen Fließgleichgewicht des Lebendigen, seiner Negentropie, beständig zusetzt. Tatsächlich ist ja der Tod der Sieg der Wahrscheinlichkeit schlechthin. Erst erkennt Freud (1923 g) im Wiederholungszwang „die Reizbewältigung unter Angstentwicklung“ (S. 32), die Umwandlung des Schrecksin Angst, aber sodann schickt er den Wiederholungszwang in die biologische Quarantäne der Todestriebe. Am Ende scheint das Lustprinzip „geradezu im Dienste der Todestriebe zu stehen“ (ebd., S. 69). Türcke jedoch macht den Wiederholungszwang zum Kulturstifter.  Kein Lebendiges will triebhaft sterben, setzt er Freud entgegen, er schlägt seinen Haken nicht mit, sondern nimmt ihn beim Wort und erkennt im Wiederholungszwang „als Trieb par excellence“nicht den Todestrieb, sondern das Drehmoment der Menschwerdung überhaupt, und zwar weil Re-Präsentation, Innerlichwerdung ohne zunächst agierte Wieder-Holung undenkbar ist.

Nebenbei sei gesagt, dass er den Todestrieb zu den drei großen Märchen der Psychoanalyse zählt, die er kritisiert, neben dem Mythos der Vatertötung und dem „Säuglingsparadies“ des primären Narzissmus, aus dem wir uns allerdings schon selbst längst verabschiedet haben.

Zweitensaber irritiert Türcke  die „allegorische Schlagseite“ in Freuds „Traumdeutung“ (Türcke, 2008, S. 52; S.48 f.). Der Rebus, in dem die Elemente „nach ihrer Zeichenbeziehung“ (Freud 1900a, S. 284) zu lesen sind, etwa wie im narrativen Bilde der Justitia als Gleichnis von Gerechtigkeit und Strafe. Ganz klar, Freuds Traumarbeit läuft top down, indem ein latenter Traumgedanke in sinnliche, repräsentierende Bilder zerlegt und  zu einem nächtlichen Video computiert wird. Wir ahnen schon, dass das nur funktioniert, wenn schon etabliert ist, was wir in unserer hässlichen Sprache die Alpha-Funktionnennen. Wie aber könnte denn Träumen gehen, wenn es noch gar keine Gedanken gibt? Bottom upnatürlich, und hier werden die braven Werkmeister Verdichtung und Verschiebung tätig und kommt das  steinzeitliche Opfern ins Spiel. Aber träumen denn unsere Hunde und Katzen denn nicht auch? Gewiß, aber vermutlich doch so,  dass sie nicht regressiv allegorisch denkträumen, sondern progressiv Affekte und somatische Reizquellen verbildern.

In Türckes kühnem Entwurf der Primärprozesse der Kulturbildung, einer buchstäblich  er- träumtenHomini­sation, die wir gerade dabei seien, wieder elektrifiziert zu zerträumen, ist das keimende Mentalgeschehen ein tätiger Alptraum: Sinn begann als Wider-Sinn, durch     wider-sinniges Opfern als Abwehrzauber. Tierisches Assoziationsvermögen muß man dabei stillschweigend voraussetzen. Wenn Selbstbeweglichkeitdas charakteristische Vermögen der Tiere darstellt, so  liegt der Quantensprung zum Menschlichen in der Umkehrung des Fluchttriebs unter Dramatisierung des Daseinsschreckens in brutaler Eigenregie. Die Verneinung der Flucht bahntden Anfang des Denkens. Repräsentierende Verschiebungund Verdichtungmit der Folge von Metonymie, Namensvertauschung und Metapher (Begriffe, die Türcke wegen der Ferne zur Physio-Logik nicht liebt) gibt es aber noch nicht. Verschiebung und Verdichtung erfolgen vorpsychisch, indem das Opfer und mit ihm der eigene traumatische, passiv erlittene Schrecken voller Not in ekstatischer Trance in den Kreis der Opfernden gezerrt und gestoßen werden. Verdichtung als Stoßen, Verschiebung als Zerren.  Das ist die allererste Ein-Bildung, in den Kreis, ganz wörtlich genommen, als rituelle Fassung wortloser Angst und Erregung. Dieser Kreis ist der gruppale Urcontainer der primitivsten Affekte da, wo es das entgiftende Du, den Innenraum des mütterlichen Anderen noch nicht gibt. Containment und Transformation ereignen sich gleichsam noch exopsychisch im performativen, bewegtenBild des Opfervorgangs als einem allerersten inkarnativen Bildmedium. Dieses ist durch und durch präsentisch, nicht repräsentational. Zugleich stellt dieser Kreis nichts anderes als die geometrische Urform des embryonalen mentalen Raumes vor, der später durch Er-Innerung endopsychisch entfaltet wird, wenn immer verfeinertere sakrale Räume zur Abarbeitung des Schreckens Kultur erzeugen.

Nebenbei macht Türcke auch einen  Vorschlag zum Rätsel des universalen Inzesttabus. Eine uralte Furcht vor Erbkrankheiten bei zu eng gepoolten Genen kann es nicht gewesen sein. Plausibler werde das Inzesttabu als Chiffre im Palimpsest der Kultur, die nicht an das Doppelgrauen der alten Opferungen erinnert sein möchte, bei denen in ausnahmsweiser  totaler Entgrenzung nicht nur familiärer Totschlag, sondern auch Inzest als Treibsatz der apotrophäischen Remedur gestattet waren. Dies Doppelgrauen sei durch das Doppeltabu von Mord und Inzest kulturell gegenbesetzt.

Es ist hier nicht die Zeit, Türckes atemberaubende, altphilologische und mythologische Argumentation zur Sprachbildung vom Namen als deiktischem Schrecklaut bis zu prädikativen Aussagen nachzuzeichnen; jedenfalls: „Das Wort beginnt als Exorzist“ (Türcke, 2008, S. 185).  Auch nicht für die kritische Analyse unserer medialen Gegenwartskultur, die im letzten Teil des Buches Gedanken aus der „Erregten Gesellschaft“ wieder aufnimmt: das unendlich langsam geknüpfte Gewebe von Konzentration, Aufmerksamkeit, Aufschub und Abwarten, Desomatisierung wird durch affektive und semantische Reeskalation erodiert. Durch Bildmaschinen, die das verneinungsgebundene Urteilsvermögen durch toxische Dosen von Bildern, die ja aufdringlich immer im Ja-Modus  gegeben sind, schwächen und zur sexuellen oder gewalttätigen Mitverkörperung einladen (Balzer 2009). In, so würde ich fortfahren, einer Kultur des Präsentismus, welcher die Absenz abhanden kommt; zwar entstehen Re-Präsentationen, frühe und sicher auch manche symbolische, durchaus im Affirmationsgestus (bei Bion heißt das „positive realization“), also präsentisch, etwa in der spezifisch menschlichen, im Alter von 9-12 Monaten auftauchenden gemeinsamen Aufmerksamkeit (joint attention; vgl. Tomasello 2002, S.83ff.) von Mutter und Kind. Doch der Spezialfall von Symbolisierung, der über Absenz, Negations­gestus, ertragenen Haß, Trauer und Schuld läuft (bei Bion: „negative realization“), kurz: über Freuds Garnrolle, bleibt als Symbolisierung plusÜber-Ich-Bildung vorerst nicht anders vorstellbarer Kristallisations­keim von Moral.  So reicht Türckes theoretisches Firmament von einem altsteinzeitlichen Diesseitsdes Lustprinzipsbis zum zeitgenössischen Jenseits des Realitätsprinzips: vom ersten, bewegten halluzinatorischen Bild im Opferritual zu den virtuellen Visualitäten elektronischer Bildmaschinen, von der Mentalisierung bis zur Mentalysierung. Von der motorischen Flucht über das Opfern als medialer Hexenküche erster Gedanken zurück in mediale Gedankenflucht.

Hatte Freud nicht aber vom Jenseitsdes Lustprinzips gesprochen? In der Tat, hier schlägt uns Türcke einige Gegenthesen ans Hoftor. Drei theoretische Implikate möchte ich nennen. Türcke gründet erstensden ganzen menschlichen Psychismus nicht auf dem Trieb (wie wir ihn verstehen), sondern auf der Abwehr, dem Reizschutz, auch wenn für ihn dann im Wiederholungszwang als Trieb par excellenceAbwehr und Trieb wieder dialektisch in eins fallen. Eine solche, strenggenommen paranoische Grundlegung der Psyche leuchtet auch naturphilosophisch ein. Membranbildung, Demarkation von innen und außen, um diskrete Einheit zu werden, sowie Abwehr äußerer Noxen sind das Grundproblemjedes Lebewesens.Man denke nur daran, dass in unserem sehr immunkompetenten Darmtrakt  auch die größte Zahl an Neuronen außerhalb der Schädeldecke Wache schiebt, einfach weil seine Innenfläche, ein Grenzgebiet, embryonal eingestülpte dirtyAußenwelt ist und bleibt. Die Kontraktion, das Zurückzucken des Schneckenfußes bei Berührung als Urakt des Seelischen – warum nicht, und die Wunderfrage lautet dann, wie daraus etwa einmal Rilkes Lyrik werden konnte.

Zweitens ist für Türcke schon das Lustprinzip selbst sekundär. Es musste durch protokulturelle Arbeit erst mühsam einem vorgängigen Schreckprinzip Stück für Stück abgerungen werden. Zwar spricht auch Freud von einer „Vorzeit“ des Lustprinzips, die er aber im Dunkeln lässt; sofern in diesem Vorreich doch die Überführung von Schreck in Angst statthat, lässt er diesen Gedanken für eine Kulturanthropologie brachliegen, anders als Türcke. Freud erkennt im Todestriebetwas Dämonisches, den Trieb par excellence, weil er den „konservativen“ Wiederholungs­charakter des Triebes am reinsten verkörpere; Türcke sieht im Wiederholungszwangden Trieb par excellence, indem er durch Schreckbindung das Lustprinzip erst langsam anbahnt. In Freuds „Vorzeit“ regiert der Todestrieb, dem das Lustprinzip schließlich zuarbeitet; in Türckes Vorzeit herrscht der Wiederholungszwang, welcher das Lustprinzip überhaupt ermöglicht.

Drittens: das Träumen als Genealogie des Geistigen überhaupt. Die eigentliche innere Traumfähigkeit, welche Bion, den Türcke stirnrunzelnd zu rezipieren versucht hat, mit der rätselhaften Alpha–Funktionverknüpft, die man über die verstehende Pflegeperson erwirbt, muß erst durch performative kollektive Halluzinose erträumt werden. Hier sind wir gewissermaßen auf homeground.Türckes  Entwurf läuft kongenial zu aktuellen psychoanalytischen Modellen von Mentalisierungund Symbolisierung(was nicht dasselbe ist; vgl. Lecours u. Bouchard 1997) - in anderen Worten der semiotischen Progression. Die Namen Bion, Aulagnier, Ferro, Rocha de Barros sind hier zu nennen. Nicht bewusste, also noch nichtunbewusste, prozedural gespeicherte sogenannte Beta-Elemente, sensorische Daten, Affekte, werden durch eine fortlaufende Tagtraumarbeit, Bions waking dream thought(1962, zit. n. Ferro 2006, S. 989) mithilfe der Alpha-Funktion  als Sinngenerator  zu „affektiven Piktogrammen“ (Aulagnier 1986, zit. n. R. de Barros 2000, S. 1094)  verbildert. Zu paßgenauen,  bildlichen (nun schon) Repräsentationen, primär ikonischen Elementen, die das Unbewußte konstituieren  und durch Verknüpfung mit Wortvorstellungen symbolisiert und metaphorisiert werden können zu sekundärer Ikonizität (vgl. Fabregat und Krause 2008) . Für die Behandlung schwerkranker, nicht neurotischer Patienten ist diese Modellierung der aufsteigenden Repräsentationen vom Somatosensorischen zum Symbolischen von größter Bedeutung. Nur heißt es  leider bei Freud, genau anders­herum: “Wir heißen es Regression, wenn sich im Traum die Vorstellung in das sinnliche Bild rückverwandelt, aus dem sie irgendeinmal hervorgegangen ist[…]Das Gefüge der Traumgedanken wird bei der Regression in sein Rohmaterial aufgelöst“ (Freud 1900a, S. 548-549). Es kann sich also beim Wirken von Bions, Ferros Wachtraumfunktion schlechterdings nicht um Freuds  nächtliche Traumarbeit handeln, diemit der allegorischen Schlagseite, ausgehend vom fertigen, aber latenten Traumgedanken. Im typischen Nachttraum wird offenbar ein Stück Mentalisierungs­geschichte rückwärts durchlaufen, aber bereits im sicheren Hafen der sogenannten Alpha-Funktion. Wie diesen Widerspruch lösen?  Türckes Traumbuch bringt mich zu dem Vorschlag: wir sollten uns an den Gedanken gewöhnen, dass die Traumarbeit in beiden Richtungen laufen kann, regressiv als Gedankenverbilderung sowie progressiv als Affektverbilderung, und zwar beides sowohl nachts im Bett wie tags im Behandlungszimmer.

Es ist zu früh, Türckes Beiträge in Summe zu würdigen. „Die Altsteinzeit in uns“: Kulturtheoretischhilft er uns, nach dem altmodischen Analogmenschen mit seinen trägen Sedimenten und  symbolischen Repräsentanzen, einen neuartigen Typus von Subjektivität zu bedenken, den wir noch nicht genug verstehen. Den untraurigen, aber doch tragischen Helden einer nicht mehr bulimischen, sondern sensorischen, ja haptischen Epoche, in der die Medien der mentalen Selbstvergewis­serung zu Medien der mentalen Selbstzersetzung mutieren. Ein aufgewühlter, beschleunigter Typus, gewitzt in der Gravitation der Medien navigierend, der müde Held unserer Datokratie,mehr mit Dauernystagmus denn mit Konzentration und Aufmerksamkeit. Denn die Aufmerksamkeitsstörung des Babys beginnt ja womöglich schon damit, dass die Mutter beim Stillakt mit dem Handy telefoniert, also im Moment allergrößter Nähe innerlich in elektronischen Fernen gebunden ist. Sensoritären Charakter habe ich vorhin diesen Typus genannt, weil er mit seinen Sinnen adhäsiv an Displays klebt in einer medienmutierten Schizoidie, ungetrennt, aber nicht bedeutungsvoll gebunden, weil er Getrennheit und sinnhafte Bezogenheit nicht mehr unter einen Hut bekommt (Balzer 2001, 2004, 2006a, 2006b).  In seiner Vorstellungswelt arretiert auf der Stufe primär ikonischer, aber nicht symbolischer Repräsentationen, für den Bilder, besser: Visualitäten, die ihn unablässig fluten, wieder von einem Medium der Erinnerungzu einemMedium der Verkörperung(Belting 2001, S.170) werden. Mit dem appetenten Körper kurzgeschlossene, performative Visualitäten ohne bedeutsame Bildlichkeit, in denen man unbehaust zuhause ist.  Antisemiotische, erregende  Visualitäten, die vielleicht im Verein mit anderen pathodynamischen Faktoren zu sorgfältig choreographierten Massakern drängen können, die äußerst fahrlässig Amokläufegenannt werden, ohne dabei einen performativen Bildwerdungsdrang, eine süchtige Dosissteigerung durch  Realverkörperung in  extremer Erlebnisgewalt zu bedenken.

Mentalisationstheoretisch sendet Türcke Licht ins Herz der Finsternis, das gegenwärtig die verschiedensten Wissenschaften nicht ruhen lässt, vielleicht weil allen schwant, wie lebendig die Altsteinzeit in uns ist. Mit der Desedimentierung uralter kultureller Schichtungen in Lichtgeschwindigkeit ist sich human mindselbst problematischer geworden denn je. Neurobiologen, Verhaltensbiologen, Phänomenologen, alle wollen wissen, was es mit dem Denken eigentlich auf sich hat und wodurch sich das animal symbolicum(Cassirer) als solches erhalten könnte. Natürlich auch wir Psychoanalytiker. Hierbei ist uns Türcke ein scharfsinniger Begleiter. Im anticartesianischen Ansatz ist ja schon geheimnisvolle Sprung von der Psyche ins Soma ein Scheinproblem, denn diese Frage kann man nur stellen, wenn man schon in der Halskrause einer einigermaßen gesitteten Kultur steckt. Umgedreht wird ein Schuh daraus: die erkenntnisleitende Frage lautet dann, wie aus Verkörperung, einem Schweißausbruch, einer Gefäßkontraktion zunächst eine bewegte Bildergeschichte und schließlich die frei konvertierbare symbolische Währung werden kann. Hierin stecken viele Denkreize für Kulturtheorie und psychoanalytische Psychosomatik.

Aber mehr noch, die Psychoanalyse bestimmt sich seit längerem neu. Ihre größte Bedrohung sind vielleicht nicht äußere Feinde, sondern die widerspenstige Aufgabe, ihre Methode neu auf dieEntdeckungen und Möglichkeiten abzustimmen, die sie mit eben dieser Methode errungen hat. Die zeitgenössische klinische Psychoanalyse ist zutiefst nicht mehr Wissenslogik, sondern Geschehenslogik.  Der psychoanalytische Detektiv, paradigmatisch verkörpert in Pabsts drolligem Film „Geheimnisse einer Seele“ von 1926 ist lange tot. Der heutige Psychoanalytiker ist verwickelter Doppelgänger der Seele seines womöglich nicht neurotischen, repräsentational organisierten Patienten in der hochbeweglichen unbewußten Aktualmatrix( Balzer 2006b, S. 36)von Übertragung und Gegenübertragung, oft im Felde des prozedu­ralen Gedächtnisses und seiner dialogischen, modalen Erweckungen. Er versucht eher deskriptiv als deutend (was passiert gerade,  nachdem vorhin jenes geschehen ist und warum) beide ein Stück daraus zu befreien, um Entwicklungen zu ermöglichen. Immer mehr muß er die Psyche als ein selbstregulierendes, komplex dynamisches System mit mehrwertiger Logik begreifen und aus Freuds Überdeterminierung und Nachträglichkeitabseits linearer, immer schon rekursiv verrauschter Kausalität, Nägeln mit Köpfen machen, um seelische Emergenz, aber auch Resilienz zu verstehen. So wie Türcke gattungsgeschichtlich, so arbeitet heutige Psychoanalyse individuell auf langen Wegen in der Vorzeitder Neurose und manchmal auch des Lustprinzips. Die altvertrauten neurotischen Subjekte  mit ihren symbolischen, wenn auch verzerrten Repräsentanzen und der Fähigkeit zu einer sedimentierenden, gestalthaften Übertragungsneurose sind ihm zunehmend abhanden gekommen. Angesichts von Mentalisierungs­störungen, psychotischen Prozessen, Dysmorpho­phobien, Selbstverletzungen, autistischen Bar­rieren, Somatisierungen, acting-out-Pathologien muß die Psychoanalyse oftmals erst die  repräsentierenden Subjekte erschaffen helfen, bei denen sie früher sich gleich ums neurotische Elend kümmern konnte. Nicht nur die mentalisierungsbasierte Therapie nach Bateman und Fonagy (2006) wäre hier zu nennen. Was zu traumatisch war, um je repräsentiert werden zu können, konnte auch nicht ins Unbewußte verdrängt werden. Unter solchen Bedingungen wird Psychoanalyse von einer Therapie durch Erinnern streng genommen mitunter zu einer der Ermöglichung des Vergessens (vgl. Fonagy 1999). Durch Überschreibung prozeduraler enactments, die Opferwiederholungen sein können, durch Arbeit an pathologischen Modi und Affekten vor aller Repräsentanzenkritik und Metaphorik. Auch unser Be-Deuten kann seine Abkunft vom Wort als Exorzisten gegen privatreligiöse, nicht repräsentierte, agierte Wiederholungen  nicht verleugnen. Und wenn die psychische Fundamentalstörung sogar die Funktion des Bewußtseins verheert, das keine Kohärenz und klare Referenz zustande bringt, muß moderne Psychoanalyse diese Einheit zuallererst fördern; durch Anerkennung des dispersen Zustandes des Patienten, Deskription und Versuch der Zusammenfügung dessen, was nicht zusammenwuchs. Manche Patienten brauchen dabei das Gesicht des Psychoanalytikers, um in ihm zu lesen, was mit ihnen selbst gerade los ist. So wie zwischen Kleinkind und Primärobjekt affektive Abstimmungs­vorgänge, mimischer Austausch, Spiegelung prinzipiell bewußtseinsfähige Vorgänge sind, kann Psychoanalysieren im strengsten Sinne dann heißen, dass die Psychoanalyse, die mit der Erfindung der Couch ihre größten Entdeckungen machte, mitunter den Wert des Sitzens face to face wiederentdecken muß, um die Reichweite ihrer theoretischen Vorstöße in die psychische Vorzeit auch klinisch einzuholen.

Die Welt  weiß wenig von dem, was wir als Psychoanalytiker mittlerweile für seltsame, schwierige, mutige Dinge treiben, während die Verhaltenstherapie sich zum  Gattungsbegriff von Psychotherapie überhaupt mausert. Dabei ist unser unübertrefflicher Vorteil, dass wir erstens systematisch auf Verwicklung und Entwicklung (vgl. Hinz 2002) setzen und zweitens sozusagen nach delta tarbeiten, im Augenblicksdifferential von Übertragung und Gegenübertragung (das ist das wirkliche proprium psychoanalytischer Therapie) und eben dadurch psychische Entwicklung, ähnlich wie sie Türckes anthropologisches Panorama beschreibt, nachholen, wo sie noch gar nicht stattgefunden hat. Dies, die Erweiterung unseres Operationsfeldes und die fortlaufende Selbstreflexion unserer Methode wären gut und gerne ausreichend, methodisch und inhaltlich einen neuartigen Platz inmitten der Heilkunde, der Kultur- undLebenswissenschaften einzunehmen. Wir stünden hier - mit Türcke und unter Würdigung des Biologischen - auch dafür ein, dass eine reduktionistische Neurowissenschaft mit ihren wertvollen Schaltplänen und bezwingenden Leuchtbildern gleichwohl nicht zur subjekttheoretischen Blaupause einer beschleunigten, entgrenzten, glasfaservernetzten Welt wird, die zwischen Substrat und Grund, Materialität und Bedeutung nicht mehr unterscheiden kann. Vermutlich wird wohl die zukünftige Spur der Psychoanalyse irgendwo zwischen „szientistischem Selbstmißverständnis“  und Amnesie für die körperliche Matrix alles Psychischen verlaufen müssen.

Christoph Türcke hat dafür wertvolle Brücken gebaut. Und dies zudem in schöner, locker- präziser, freudartig lakonischer Prosa. Das Telos seines Denkens und Mahnens finde ich in einer späteren Zeile von Rilkes in meinem Titel türckisierter 1. Duineser Elegie: „ und die findigen Tiere merken es schon, dass wir nicht sehr verlässlich zu Haus sind in der gedeuteten Welt“ (Rilke 1912/1922 (1980, S.441)). Oder in einer treffenden Bemerkung Antonino Ferros (2005, S.1541; meine Übersetzung, W.B.): „…was allgemein als Todestrieb angesehen wird, könnte lediglich das Resultat der tatsächlichen Begrenzung der Kapazität unserer Spezies sein, sensorischen „input“ zu transformieren. Was nicht alphabetisiert werden kann, wird ausgestoßen in  Halluzinationen, psychosomatische Erkrankungen, Agieren ohne jegliche gedankliche Tiefe. Dies ist die Quelle der „madness“ unserer Spezies, der wir allenthalben begegnen.“

Wobei Türcke an anderer Stelle Rilke vom Kopf auf die Füße stellt: „Menscheitsgeschichtlich gesehen ist das Schöne natürlich des Schrecklichen Ende“ (Türcke, 2001, S. 513). Einer von seinen geradezu lässig eingestreuten Kurzbescheiden lautet: Freud Lebensaufgabe war die „Überwindung der Aphasie“ (2008, S. 228). Und Türckes? Es ist ja gottlob noch nicht fertig. Aber fürs erste würde ich sagen: Rettung eines wohltemperierten kulturellen Reaktionsmilieus, das fortlaufende Transformation der Angstgewalt in beruhigtes Denken ermöglicht, Umformung sensorischer Reize, lärmender Affekte in diskursfähigen Wohllaut: „das Zittern um Einklang als Grundimpuls aller Musik“ (2001, S. 519). Dies ist das verborgene musikalische Motiv im Werk des fünften Türcke, der als Violinist einmal sehr weit gediehen war. Und so schließt sich der Kreis, wenn wir bei ihm über Jesu Gleichnisse  (2009, S.132) lesen, man würde sie „musiktheoretisch als Transposition in eine höhere Tonart bezeichnen, der man die grauenhafte Tiefe, aus der sie aufgestiegen sind, nicht mehr anhört.“ 

Lieber Christoph Türcke, herzliche Glückwünsche! Wir freuen uns, dass Sie diese Ehrung angenommen haben, wünschen allen noch viele psychoanalytisch-kulturheoretische Opfergaben aus ihrer Werkstatt und uns Psychoanalytikern, dass Sie uns noch manches unserer Märchen auf neuartige Weise erzählen und dabei unser kritischer Komplize bleiben.


Werner Balzer

Anmerkungen

*Mit Literaturhinweisen versehene Fassung der Laudatio anlässlich der Verleihung des Sigmund-Freud-Kulturpreises an Prof. Dr. Christoph Türcke, Herbsttagung der DPV, Bad Homburg, 19.11.2009.

[1]„Seit der Reflexion über die Aufführung von Tragödien wird über das Phänomen nachgedacht, daß der Zuschauer Lust am Schrecken verspürt. Der Schrecken gehört zum Attraktivsten, was die Menschen kennen…Tiere reagieren auf Schreckliches mit Flucht und sind zu der komplizierten Seelenverkehrung einer Lust daran nicht in der Lage.“ (Brandt 2009, S. 123).

[2]Auch das Phänomen der Apoptose, des programmierten Zelltodes, liefert kein stichhaltiges Argument für einen dem Lebendigen eingeborenen Drang zum Tode: die Selbstzerstörung auf der zellulären Systemebene dient auf der Systemebene des Gesamtorganismus dessen Überleben.

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Drucknachweis:

Balzer, W. (2010): Denn das Denken ist nichts als des Schrecklichen Wandlung. Zu C. Türckes Genealogie des Mentalen im Zeitalter seiner medialen Selbstzersetzung. Laudatio anläßlich derVerleihung des Sigmund-Freud-Kulturpreises an Prof. Dr. C. Türcke, Herbsttagung der DPV, Bad Homburg, 2009. Psychoanalyse, 14. Jg., Doppelheft 2/3, 385-397. Zugleich in: G. Schneider, H.J. Eilts & J. Picht (Hrsg.): Psychoanalyse, Kultur, Gesellschaft. Tagungsband der DPV-Herbsttagung 2009 (S.10-23).