Zum Tod von Leon Wurmser
Léon Wurmser ist am Abend des 15.02.2020 nach langer Krankheit im Alter von 89 Jahren im Kreis seiner Familie friedlich eingeschlafen ist. Am Montag, den 17.02.2020 wurde er in seiner Heimatstadt Baltimore/Maryland beigesetzt.
Sein Tod bedeutet für mich und viele von uns sowohl auf fachlicher als auch auf persönlicher Ebene einen großen Verlust, war er doch einer der humanistisch gebildeten vielseitig gebildeten Menschen. Er verfügte über eine immense Kreativität, die im persönlichen Austausch mit ihm sehr spürbar wurde und die sich vor allem in seinen unzähligen Veröffentlichungen zeigte. Es fällt schwer, seine intellektuelle Größe und Vielseitigkeit mit wenigen Worten zu umreißen. Deshalb kann ich nur einige wenige Schwerpunkte seiner Arbeiten erwähnen. Er gehörte zu den ersten Psychoanalytikern, die das Dogma der Nichtbehandelbarkeit schwerster Borderline-Persönlichkeitsstörungen in Frage stellten. Auf dem Hintergrund seiner Auseinandersetzung damit schrieb er seine Bücher „Flucht vor dem Gewissen“, „Zerbrochene Wirklichkeit“, „Die Maske der Scham“ und „Das Rätsel des Masochismus“ sowie Arbeiten zur negativen therapeutischen Reaktion. Wie er mir in einem persönlichen Gespräch berichtete, waren es seine Erfahrungen in seiner eigenen Lehranalyse, die ihn anregten, sich mit Fragen zum archaischen Über-Ich und zu Schamaffekten und Schamkonflikten auseinanderzusetzen; denn diese Aspekte hatten dort in ihrer Bedeutung und ihren Auswirkungen nur wenig Berücksichtigung gefunden.
Seiner langjährigen Tätigkeit mit Drogenabhängigen folgten Veröffentlichungen zur Psychodynamik des Drogenzwangs. Auch zu literarischen und philosophischen Themen und zur jüdischen Religion veröffentlichte er tiefgehende und vielschichtige Überlegungen. Ein sein gesamtes Leben begleitendes Thema war seine Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus und mit den Schrecken des Holocaust. Dies war auch Gegenstand vieler unserer persönlichen Gespräche, woraus dann auch gemeinsame öffentliche Veranstaltungen erwachsen sind.
Viele von uns kannten und schätzten ihn darüber hinaus persönlich aus seiner vielfältigen Lehr- und Supervisionstätigkeit, die er bei uns in Nürnberg und Regensburg und in vielen deutschen Städten, aber auch europaweit durchführte. 2004 erhielt er die Ehrendoktorwürde der Philosophischen Fakultät der Humboldt-Universität Berlin.
Seine Vorträge bei den Lindauer Psychotherapiewochen sind vielen von uns ebenfalls noch in lebhafter Erinnerung. Auch dort vermittelte er uns etwas von seiner geistigen Brillanz, aber auch von seiner zugewandten und menschlich warmherzigen Art im therapeutischen Umgang mit Patienten, sowie von seinem offenen und klaren Denken.
Sowohl in seiner Arbeit als auch in seinen persönlichen Begegnungen und Beziehungen war es ihm immer wichtig, sein Gegenüber nicht auf Klischees oder Theorien zu reduzieren, sondern dieses in seinem „So-Sein“ zu erkennen, zu erfassen und zu verstehen. Dabei hatte er eine große Fähigkeit, Unterschiede und Widersprüche stehen zu lassen, kurz gesagt war er ein Verfechter des „Sowohl-Als-Auch“.
Er hinterlässt eine große Lücke. Mich persönlich verbindet mit Leon Wurmser ein langer und anregender wissenschaftlicher Austausch, auf dessen Basis sich über die Zeit auch eine tiefe Freundschaft entwickelte. So vermisse ich ihn nicht nur in meiner analytischen Arbeit als anregenden Gesprächspartner, mit dem ich mich immer wieder über klinische und theoretische Fragen austauschen konnte und mit dem ich häufig und gerne Fallseminare gestaltete, sondern auch als Freund.
Léon Wurmser wird sicher für viele Kolleginnen und Kollegen in lebendiger guter Erinnerung bleiben. Wir werden seiner in Hochachtung und liebevoller Wertschätzung gedenken.
Heidrun Jarass
Regensburg, 26.02.2020