Laudatio für Christina von Braun

Foto: Milena Schlösser

Zur Verleihung des Sigmund- Freud- Kultur- Preises 2013 der DPV und der DPG

von Lilli Gast

Wie hält man eine Laudatio auf eine Frau, die mehr ist als eine, die in ihrem Schaf­fen so viele verschiedene Facetten vereinigt, die auf so vielfältige Weise in Er­schei­nung getreten ist?  —  Die sich als Filme­macherin, Autorin, Kultur­schaffende, Wissenschaftlerin und Kultur­analytikerin einen Namen gemacht hat und dies in allen nur denkbaren Kombinationen ihrer Expertisen. Auf eine Frau, die sich in vielem als eine Pionierin und in fast allem als eine der Ersten erwiesen hat? Deren intellektuelle Expeditionen in so viele Kultur- und Denkwelten hinein, aber nur sel­ten wieder hinaus führten? Nicht etwa, weil sie auf ihren Erkundungen die Orien­tierung verloren hätte, sondern weil sich im Durchmessen oftmals nur ungenau kartographierter Terrains verborgene Verbindungsgänge, unvermutete Brücken, überraschende Unterströme aufgetan haben, die zu untersuchen sie neugierig, aber auch mutig genug war. Unterströme, die offenkundig Divergentes und Dis­parates miteinander verknüpfen. Verbindungen, die Fremdes, einander Entferntes vertraut, und scheinbar Nahes, Vertrautes fremd erscheinen lassen. Brücken, die Zusammenhänge dort aufweisen, wo man sie nie erwartet hätte. Zweifellos: Mutig muss man sein und auch kühn, will man den Subtext unserer und anderer Kulturen entziffern und lesbar machen – will man sich einlassen auf ein unabschließ­bares Dechiffrieren all dessen, was sich unendlich entzieht und allen­falls in ver­weh­ten Spuren, in Ritualen, Artefakten und kollektiven Über­zeu­gungen zeigt. Ohne Mut gelingt keine Überschreitung der disziplinaren Grenzen und ohne die Kühnheit der Spekulation bleibt der Zugang in nicht, in noch nicht kanonisierte Zusammen­hänge verschlossen.

»Sag die Wahrheit ganz, doch sag sie schräg, Erfolg liegt im Umkreisen«, heißt es in einem der wunderschönen Gedichte Emily Dickinsons, das mir während meiner neuerlichen Beschäftigung mit dem Œuvre Christina von Brauns in Vorbereitung dieser Laudatio immer wieder in den Sinn kam. Kein Wunder, ist ihr Werk doch ein dicht gewebtes, ein fein gesponnenes Netz vielfältigster und auf den ersten Blick ganz unterschiedlicher, gar arbiträr anmutender Themen­komplexe: Medien­theorie, Religionsgeschichte, Monotheismus und Säkulari­sie­rungs­prozesse, Schrift­systeme, Geschlechter­differen­zie­rungen, Antisemitismus und Juden­tum, Orient und Okzident, Körpergeschichte, Finanzpolitik und Geld­wirtschaft.......

Ihr Zugriff auf diese Themen jedoch macht schnell deutlich, wie trügerisch dieser erste Blick doch ist, denn ihre Studien lösen die scheinbare Berührungslosigkeit der Topoi in eine Vielzahl von Verweisungs­zusammen­hängen und intertextuellen Bezügen auf.  In Anlehnung an den Ethnologen Levi-Strauss könnte man Christina von Brauns Vorgehen eine Bricolage nennen. In seiner für die moderne Kultur­theorie so grundlegenden Abhandlung ›Das wilde Denken‹ bezeichnet Claude Levi-Strauss mit diesem Begriff, in der wörtlichen Übersetzung ›Bastelei‹, eine Denkart, die sich einer Aufgabe kreativ und mit improvisierten, fast zufällig bereit­liegenden Mitteln nähert, statt den Gegenstand einer rational-planmäßigem Heran­gehens­weise und ausgerüstet mit allerlei Spezialwerkzeug aus dem methodischen und metho­do­logischen Arsenal einer Fachdisziplin zu unter­werfen.

Und dies markiert auch sogleich die wesentliche Schnittstelle zwischen Christina von Brauns Denken und der psychoanalytischen Denk­tradi­tion, denn Freud könnte man sicher mit Fug und Recht als Bricoleur par excellence bezeichnen, ging er doch seinem Erkenntniswunsch, nämlich den verborgenen Sinn in der verrückten Rede und der Symptomatologie der Hysterikerin zu entschlüsseln, in aller Beharr­lichkeit und Konsequenz mit den ihm zu Gebote stehenden Mitteln nach, wohin auch immer es ihn führen möge. Und es führte ihn bekanntlich weit über die diszi­plinaren Grenzen seiner wissenschaft­lichen Heimat, der Neurologie und Medizin, hinaus ins offene, un­geschützte Gelände. Die von Freud eingeleitete diskursive Neuordnung im Wissenschafts­verständnis verdankt sich also im weiteren Sinn einem ›wildem Denken‹, insofern  - und Alfred Lorenzer hat dies ja verschie­dent­lich eindrücklich gezeigt  -  er seine ganze naturwissen­schaft­liche Kompetenz der Eigenlogik seines Erkenntnisgegen­standes überstellte und auf diese Weise die Grenzen zwischen den Natur­wissen­schaften einerseits und den Kultur- und Geistes­wissenschaften andererseits auf durchaus subversive Weise unterlief.     Mit diesem diskursiven Gründungsakt einer Grenzüberschreitung hat sich die Psychoanalyse als eine Erkenntnismethode, als eine Denkpraxis etabliert, die es ermög­licht, Denkräume zu öffnen, um etwas ›denk-bar‹ und der Analyse zugäng­lich zu machen, indem sie herkömmliche Sinnzu­sammen­hänge dekonstru­iert, kristallin ge­wordene Selbst­verständlichkeit verflüs­sigt, neue Ver­knüpfungen erlaubt und so neue Bedeutungen generiert.

Tatsächlich hat sich Christina von Braun, mir scheint, noch vor ihrer ausführli­cheren Beschäf­tigung mit Freuds Denken, eingehend mit Levi-Strauss befasst, und zwar bereits früh, noch in ihrer Pariser Zeit, wo sie als Filmemacherin und freie Autorin in den Jahren von 1969 bis 1981 lebte, und im Rahmen eines ihrer zahl­reichen Dokumentar­filme ein Gespräch mit ihm führte. Die Liste ihrer Film- und Fernseh­produktionen ist ebenso lang wie facettenreich: vor allem in den 70er und 80er Jahre entstanden über fünfzig Filmessays, Dokumentarfilme, Dokumentar- und Fernsehspiele sowie mehrteilige Features zu kulturhistorischen, kulturpoliti­schen und kulturwissen­schaftl­ichen Themen. Man kann vielleicht sagen: Der Film wird ihr zum ersten Medium, in dem sich ihre intellektuelle Suchbewegung aufhält und zugleich zeigt sich hier ein Charakteristikum ihres Schaffens, das man viel­leicht am ehesten mit dem Bauhaus-Motto ›form follows function‹ umschreiben könnte: in ihren Händen wird die Kamera zum Stift und der Stift zur Kamera — ein Wechsel der Medien und der Darstellungsebenen, den auch die Bewegung ihres Denken ständig vollzieht. Diese wechselseitige Reflexion der Darstellungsebenen trägt sich zudem, gleich­sam leit­motivisch, in die in so vielgestaltiger Weise durch­gearbeitete Grund­thematik ihrer Forschungsfragen ein, insofern sie allesamt eine Analyse des dialektischen Ineinandergreifens von Körpergeschichte und Geistes­geschichte konvergieren.

Die Semiotik des Körpers und die Leiblichkeit der Zeichen und der Sprache sowie die Geschlechtlichkeit des Geistes und der Geschichte sind die zentralen Topoi im Werk Christina von Brauns, deren Abdrücke, Strukturbildungen und Spuren sie in allen kulturellen Artefakten, Ausdrucks­formen und Prozessdynamiken zugleich akribisch und doch mit der weit ausholenden Geste intellektuellen Weitblicks her­aus­präpariert und dem Blick freigibt. Diesem roten Faden in ihrem Werk möchte ich nun – lose – folgen.

Meine früheste Begegnung mit Frau von Brauns Denken war ihre erste große Studie ›Nicht-Ich: Logik, Lüge, Libido‹, in der sie die Geschichte und hier vor allem die verborgene Logik und kulturelle Verfasstheit der Hysterie erkundete. Sie er­schien 1985 und ich erinnere mich sehr gut an den Beginn meiner Lektüre damals: in Berlin in Wolffs Buchhand­lung stehend las ich den allerersten Satz der Einlei­tung und wusste, dass es wohl ein wichtiges Buch für mich werden würde: »Dieses Buch hat sich gewissermaßen selbst geschrieben. Als ich anfing, wußte ich nicht, wohin es mich führen würde, und hätte ich es gewußt – ich weiß nicht, ob ich je damit begonnen hätte.«  Gottseidank wussten Sie es nicht, liebe Frau von Braun, denn es wurde ein wichtiges Buch für mich und, wie ich schnell feststellte, nicht nur für mich  –  was für ein intellek­tuelles Abenteuer, was für ein Feuerwerk an Ideen und Verknüpfungen, das mich tief beeindruckte: Bilder und Textfragmente in eng­em Rapport, intertextuelle Lektüren und messer­scharfe Analysen neben mäan­dernden Assoziationen und immer wieder eingeschobene Exkurscollagen eröff­neten nicht nur neue Denk­räume, sondern erwiesen sich auch in methodischer Hinsicht als ein ebenso gelungener wie innovativer Versuch, psychoanalytische Denkbewegungen in Form und Inhalt auf die eigenen kulturellen Voraussetzungen anzuwenden und damit zugleich den diskursiven Subtext unserer conditio humana zugänglich zu machen.  »Erlaubt es die Hysterie, die immer Interpretationsmuster gewesen ist , ein Inter­pretationsmodell zu entwickeln, mit dessen Hilfe die Inter­preten ihrer­seits interpretiert werden können; ermöglicht sie es, die unsichtbaren Fäden des ›Systems‹ zu offenbaren, durch die Philosophie und Medizin, Naturwis­senschaften und Theologie miteinander verknüpft sind?« heißt es programmatisch auf den ersten Seiten des Buches – hier ist sie: die Rückwendung des Denkens auf sich selbst, die sich doch vor allem die Psychoanalyse als wohl avancierteste Wissenschaft unserer Zeit als Leitmotiv und als doch im Grunde unabschließbaren Anspruch auf die Fahnen geschrieben hat. Für Christina von Braun wird die Psy­choanalyse in der Anwendung auf sich selbst, im Rückbezug auf die eigenen Vor­aussetzungen und Konstitu­tionsbedingungen spätestens hier zum Präzisions­in­strument einer Analyse von Wissensproduktion schlechthin – zu einer kritischen Ontologie unseres Denkens, unseres Redens und Wissens. Und indem die For­schungsmethode in diesem speziellen Fall dem Gegenstand selbst entnommen ist, kommt sie den an der Wissensproduktion beteilig­ten unbewussten Interessen, Be­gierden und Wunschbei­mengungen, den Abwehrformationen und den Prozes­sen der Hervor­bringung von Unbewusstheit und auch von Nicht-Wissen / Nicht-Wis­s­en-Wollen, auf die Spur.

Die in dieser Studie vielleicht nicht erstmals entwickelte, aber in höchstem Raffine­ment und fast skrupulöser Akribie umgesetzte Herangehensweise wird zur Blau­pause, wenn man so will, für Christina von Brauns kulturtheoretische und kultur­komparative Erkundungen: entlang der Demarkationslinien zwischen Sagbarem und Unsagbarem, Sichtbarem und Verborgenem durchkämmt sie in ihren Arbeiten die Geschichte des kollektiven Imaginären und der kulturellen Gemein­schafts­bil­dung, untersucht sie die Geschichte des Antisemitismus und verlängert dies hinein in die Erscheinungsweisen der kulturellen Überlagerung von Sexual- und Rasse­bildern.  Das Aufspüren des diskursiv Ausgeschlossenem, das Hervorholen des zum Verschwinden Gebrachten oder ›zur Kenntlichkeit Ent­stellten‹, wird von nun an zum Flucht­punkt ihrer Suche.  Bei all dem bilden die Topoi der kulturellen Einschreibungen der Geschlechterdifferenz und der historischen Wirkungsmacht der Geschlechterbilder sowie die Religion und deren Sedimentie­rungen in den Säkularisierungsprozessen der Moderne gleichsam die Schußfäden, die sich als Grundtextur, als Gitternetz durch alle Arbeiten und Forschungsprojekte Frau von Brauns ziehen und den Referenzpunkt all ihrer Analysen bilden.

Diese beiden Fäden durchziehen nicht nur die wissenschaftlichen Forschungs­arbeiten, sondern sie materialisieren sich, ganz buchstäblich, in der Gründung wissenschaft­licher Einrichtungen, die Frau vorn Braun mit großem Geschick und Beharrlichkeit betrieb und mit denen es ihr gelang, diese Inhalte in der Topo­gra­phie wissen­schaft­licher Institutionen zu ver­ankern und sie damit in den uni­versitä­ren Struk­turen dauerhaft zu etablieren. Nach ihrer Rückkehr aus Frankreich und einem Intermezzo als Fellow am Kultur­wissenschaftlichen Institut in Essen folgte sie 1994 dem Ruf auf den Lehrstuhl für Kulturtheorie mit dem Schwerpunkt Ge­schlecht und Geschichte am Institut für Kulturwissenschaft der Humboldt-Univer­sität zu Berlin. Es dauerte keine zwei Jahre, und ein neuer, vielfach beachteter und in seiner Organisations­form sehr innovativer Studiengang war auf ihre Initiative hin gegründet: der Studiengang Gender Studies sowie, einige Jahre später, das Gra­duiertenkolleg »Geschlecht als Wissenskategorie« sowie das Zentrum für Trans­disziplinäre Geschlechterstudien, an dessen Entwicklung sie ebenfalls in Leitungs­funktion maßgeblich beteiligt war.

Nach ihrer Emeritierung 2009 folgten sogleich die nächsten Gründungen: das »Kollegium Jüdische Studien« an der Humboldt Universität, dessen Leiterin sie ist sowie das ›Zentrum Jüdische Studien Berlin Brandenburg‹.

Überhaupt: Religion und Geschlecht —

Christina von Brauns Geburtsort ist Rom. Ihr Vater war zu dieser Zeit Legations­sekretär in der Botschaft am Heiligen Stuhl. In der Geschich­te ihrer Familie, die sie unter dem Titel ›Stille Post‹ – auch dies einer Bricolage nicht unähnlich – vor einigen Jahren veröffentlicht hat, beschreibt sie, wie sie als kleines Mädchen mit ihren beiden Geschwistern in den Vatikanischen Gärten spielte, umgeben von schwarzen Soutanen und roten Kardinalshüten, bis die Familie 1949 in ihrem fünften Lebensjahr ins zerbombte Nachkriegsdeutschland zurückkehrte. Ihre Mutter, auch davon erzählt sie, habe sich in diesen vatikanischen Jahren ein­gehend mit Kirchengeschichte beschäftigt und sei im übrigen als einzige Frau in diesem Staat heiliger Männer ein argwöhnisch betrachteter Fremdkörper geblieben. Sind es womöglich frühe sinnliche Eindrücke wie diese  – und diese biographische Anmerkung zu den beiden großen ebenso monolithischen wie erratischen Themen ihres Œuvres sei mir erlaubt – die Frau von Brauns intensive Auseinandersetzung mit den Unterschieden, aber auch mit den Gemeinsamkeiten der großen mono­theistischen Weltreligionen unterfüttern und ihren Blick schon früh für die kleinen und großen Wirkungen und Er­scheinungs­weisen der Geschlechter­differenz sowie die mikro- und makro­skopischen Verwerfungen im Geschlechterverhältnis sensi­bilisierten?   –  Und da ich bei den biographi­schen Fragmenten bin, möchte ich die Großmutter mütter­licherseits, Hildegard Margis, nicht unerwähnt lassen, die in einer von Wider­sprüchen und auch Verstrickungen nicht freien Familien­geschich­te, in der sich all die Verwerfungen der Weimarer Republik und der NS-Diktatur ab­bilden, die Zivilcourage des Wider­stehens und der auf­rechten Haltung verkörperte und die gleichsam, erst in der Nach­träglichkeit erkannt, zur Mentorin ihrer Enkelin wurde. Ihre stummen Botschaften, schreibt Christina von Braun am Ende ihrer genealo­gischen Dechiffrierungsarbeit und als deren ganz persönliches Fazit, hätten ihr Leben und ihre Arbeit in eben jene Bahnen gelenkt, in denen es nun verlaufe.

Doch zurück zu Frau von Brauns Forschungsarbeiten: In ihrem nächsten großen Buch mit dem Titel ›Versuch über den Schwindel‹ verknüpft sie die verschiedenen Fäden ihrer vorangegangenen Untersuchungen und Studien, führt deren Befunde aneinander heran und lässt dergestalt ein weitgespanntes  rhizomatisches Netz  erstehen, in dem sich die Geschlechter- und Körperbilder christlicher und jüdischer Denktraditionen und deren Verhältnis zu Schrift- und Bildkulturen verfangen. Dabei wird deutlich, in welchem Maße insbesondere die Geschlechtlichkeit und ihre kultu­relle Differenzierung zur Naturalisierung des Symbolischen schon immer heran­gezogen wurde. Die kulturelle Alphabetisierung des Körpers, die ja im Mittel­punkt ihrer Logik-Lüge-Libido Arbeit über Hysterie stand, und die Körper­lichkeit, ja Ge­schlech­tlichkeit der Schrift bilden hier den basso continuo eines ebenso fili­granen wie feinverästelten Verweisungs­systems von kulturell erzeugten und kultu­relle wirksamen Zeichen und Signifikanten. Auch dies eine unablässig zirkulie­ren­de ›stille Post‹, stumme Botschaften, Bricolagen, die entschlüsselt werden wollen, deren Bedeutungen und vor allem Bedeutungs­überschüsse klein­schrittig er­schlos­sen und in ihrer Variabilität erfasst werden müssen und deren Symptom­bildungen und latenten Sinngehalten sich Frau von Braun in durchaus analytisch-deutender Weise nähert.  

In einem Wechsel von Close Reading und kühner Überschreitung des Augen­scheins entfaltet sie das nach­gerade struktur­analoge Verhältnis von Körper und Schrift und zeigt, wie sich deren wechselseitige Ein­schreibungen auf und inein­ander, einem Vexierbild nicht unähnlich, in im Grunde allen kulturellen Verfasst­heiten, Artefakten und Prozessen niederschlagen, wobei sie den Umschlagpunkt in einem kollektiven Imaginären verortet. Die in eben diesem Imaginären abgelegten kulturellen Einschreibungen auf den Körper und die Alphabetisierung der Sinne finden ihren Widerhall, ihre ›Korrespondenz‹ in den Einschrei­bungen des Leib­li­chen, wie sie in der Entwicklung der verschiedenen Schrift­systeme nachgewiesen werden können. Allen Schrift­systemen, auch wenn sie sich in ganz verschiedenen Registern bewegen, ist eigen, dass sie den sprechenden Körper entweder nach­bilden, wie etwa in der kodierten Lautfolge von Vokalen und Konsonanten oder aber seiner Präsenz dringend bedürfen, um den Zeichen durch das Hinzu­fügen der fehlenden Vokale erst ihren Sinn zu geben, wie dies etwa im semitischen Konso­nantenalphabet der Fall ist. Die Schriftzeichen selbst bilden also die sinnlichen Se­dimente des Alphabets.  Wenn wir also von Textkörper oder Schriftkörper sprech­en, überschreitet diese Formulierung das Metaphorische und wird zutiefst analy­tisch, insofern es seine Deutung, nämlich die innewohnende Leiblichkeit, gleich­sam mitführt. Freuds große Lebens­leistung bestand ja nicht zuletzt darin, dass er über die körperliche Fundierung alles Psychischen hinaus in eben einer solch dia­lektischen Verschränkung von Körper und Semiotik eine Erkenntnisquelle er­schlos­sen und dem Diskurs zugänglich gemacht hat. Paul Ricoeur, dessen brill­ante philosophische Freudlektüre die Feinarchitektur psycho­analytischen Denkens herauspräparierte, spricht in diesem Zusammenhang von der Dialektik von Kraft und Sinn, wie dies etwa in der komplexen Konfiguration des unbewussten Wun­sches hinterlegt sei, in dem die Register des Triebes (Kraft) und die Register des Sinns einander kreuzten — und dieser Kreuzungspunkt liegt bekanntlich im Unbe­wussten.   

Christina von Brauns Oeuvre umkreist auf vielerlei Weise eben diese Schnittpunkte der Register und thematisiert damit die unbewussten Konfigurationen von Sinn und Bedeutung, wie sie sich in die Subjekte und aber vor allem auch in die kulturellen Formationen und Hervor­bringungen eintragen. Sie fragt, auf welche Weise sie dort manifest werden oder, wie man auch sagen könnte, welche kulturellen Sympto­mato­­logien in Gestalt spezifischer Diskursformationen sie ausbilden. Jenes Offen­sichtliche am Verborgenen, als welches Gadamer das Symptom versteht, wird ihr  - in bester psychoanalytischer Manier-  zum Ansatzpunkt und, wie man es in  Abwandlung eines Freud’schen Diktums formulieren könnte, zum ›Leitseil‹ einer Reflexion, die sie zum Ungesagten, Ungehörten, Nicht- Repräsentierten, also zu den diskursi­ven Dunkelfeldern und Voids oder zu den entstellten, verleugneten, abgewehrten Einschlüssen in der Feintextur der Kultur führt. Wenn es bei Novalis heißt: »Alles Sichtbare haftet am Unsichtbaren – / das Hörbare am Unhörbaren / das Fühlbare am Unfühlbaren. / Vielleicht das Denkbare am Undenkbaren.«, dann umschreibt dies wohl gleicher­maßen die Fundierung einer genuin psychoana­lytischen Denk­bewe­gung wie die kulturanalytische Erkenntnismethode Christina von Brauns.

Das, was in ihrem gesamten Œuvre auf labyrinthischen, mäandernden Erkenntnis­wegen zum Vorschein kommt, findet insbesondere in zwei Studien eine ganz kon­krete, gleichsam aktualhistorische und letztlich doch pointierte Anwendung: näm­lich in Frau von Brauns durchaus kontrovers diskutierten Auseinander­setzungen mit dem Islam und der kulturellen Verfasstheit der muslimischen Frau und in ihrer jüngsten großen Monographie über die Kulturgeschichte des Geldes, die ja auch den Hintergrund des gestrigen finanzpolitischen Forums bildete.

Ausgangspunkt des erst genannten, mit Bettina Mathes verfassten Buches ›Ver­schleierte Wirklichkeit: Die Frau, der Islam und der Westen‹ ist das Symbol des Kopftuches bzw. des Schleiers und dessen Resonanz, die beides in westlichen Kulturen findet. Die Autorinnen gehen hier der kulturellen Eigenlogik islamischer Selbstverständnisse nach und ziehen dabei den Vergleich der Mechaniken der Geschlech­ter­differenzierung in Orient und Okzident als Erkenntnisquelle heran. Fluchtpunkt der Analyse sind hier die je spezifischen Ausprägungen von Funda­mentalismus, was wohl unvermeidlich irritierende Lesarten und Befunde zeitigt, die geeignet sind, ganz unterschiedlich perspek­tivierte Kontroversen auf den Plan zu rufen. Es bildet sich darin aber ein für unsere aktuellen gesellschaftlichen und so­zialpolitischen Herausforderungen recht zentraler Punkt ab, nämlich der, wie sich die zunehmende Globalisierung, die sich ja vor allem auf wirtschaftlicher und finanzpolitischer Ebene abspielt, mit den erkennbar auseinander­driftenden Aus­prägungen von Modernität und den daraus resultieren­den konfligierenden Moder­nen ins Verhältnis bringen lässt.

Tatsächlich bewegt sich Frau von Braun hier in den diskursiven Konfliktfeldern, die die sogenannten Postcolonial Studies letztlich hervorgebracht haben und deren aporetischen Bodensatz sie zugleich bilden. Die Aporie der Vervielfältigung der Moderne in einer globalisierten Welt, und dies wird, wie ich finde, in Christina von Brauns kulturhistorischer Auseinander­setzung mit dem Islam und ihrer Analyse der Fallstricke östlicher und westlicher Säkularisierungsprozesse so eindrücklich greif­bar, liegt schließlich in der Grund­frage nach der universellen Gültigkeit der Men­schen­rechte als vornehmste Quintessenz der Aufklärung ange­sichts der Pluralität eigenlogisch verfasster Kulturen oder anders formuliert: in der diskursiven Lücke, die zwischen einer partikularis­tischen Anerkennung kultureller Differenz und der Forderung nach Anerkennung allgemeiner, internationaler Menschenrechts­stan­dards besteht.

Insofern bildet ihr jüngstes und viel beachtetes opus magnum, als welches ich es mit unverhohlener Bewunderung bezeichnen möchte, die andere Seite der Medail­le kultureller Partikularismen und globaler Universalismen: ich meine ihre große Kulturgeschichte des Geldes, die sie vor zwei Jahren unter dem vieldeutigen Titel ›Der Preis des Geldes‹ veröffentlichte. Es ist eine atemberaubende Studie, die den Spuren, Engrammen und Einschreibungen folgt, die das Geld in allen Bereichen, in allen Dimensionen und auf allen Ebenen menschlicher Existenz hinterlassen und sich unablösbar in unsere condito humana eingenistet hat. Fast möchte man mei­nen, alles von ihr zuvor Gedachte, Geschriebene, Entfaltete und Dechiffrierte bilde die Vorarbeit zu dieser großen Analyse der latenten Sinngehalte und unbewusst wirksamen Bedeutungskonfigurationen des Geldes in all seinen kulturellen Ausprä­gungen und Spielarten. Im Topos und in der logischen Topo­graphie des Geldes – für Christina von Braun die wohl körperlichste Abstraktion – laufen die großen Linien ihrer Untersuchungsfelder zusammen: Schrift, Religion, Geschlecht, Ge­schich­te und die Transformationen, die all diese Linien erfahren. Fast möchte man sagen: hier schließt sich der Kreis zurück zu ›Logik, Lüge, Libido‹, denn auch dies eine kritische Ontologie unserer kulturellen Verfasstheit, der wir unterworfen sind und die wir aber zugleich erzeugen und behaupten. Aber von einem Schlussstein kann gar keine Rede sein, denn das Wissen um die Unab­schließ­barkeit unseres Ringens um Verstehenszugänge und die Hochschätzung der Fragen, vor allem der insistierenden, ist der vielleicht größte Schatz unserer psychoana­lytischen Kultur und Haltung. Wir wissen: Der Kreis vollendet sich nicht, sondern erzeugt neue, offene Räume – und diese Einsicht in die Unabschließ­barkeit lässt aus unserer Hoffnung auf noch viele weitere Erkundungen und intellek­tuelle Abenteuer aus der Feder Christina von Brauns die Gewissheit berechtigter Vorfreude werden.

© Prof. Dr. Lilli Gast, International Psychoanalytic University Berlin, Stromstr. 3, 10555 Berlin, Email: lilli.gast@ipu-berlin.de

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