Psychismus und Somatismus – zwei Medizin-Richtungen im 19. Jahrhundert

 

Im Zuge der o. g. Entwicklung spalteten sich im 19. Jahrhundert die Mediziner in sog. Psychiker bzw. Somatiker. Zu letzteren zählten so bekannte Ärzte wie Virchow, Griesinger und Friedrich, die sich politisch eher zu liberalen und linken Strömungen des 19. Jahrhunderts bekannten und seelische Störungen in erster Linie als Folge körperlicher (materiell-substanzieller) Veränderungen ansahen. Die Psychiker waren aber zunächst einmal nicht Psychologen in unserem heutigen Sinne, sondern meistens romantische Mediziner, deren Haltung nicht psychologisch, sondern moralistisch war[1]. Manche Vertreter dieser Richtung gingen so weit, Krankheit als Folge persönlichen Fehlverhaltens zu verstehen. Zu den Hauptvertretern der Psychiker zählte J.C.A. Heinroth, der 1818 zum ersten Mal den Begriff Psychosomatik verwendete[2]. In seiner Literaturkritik vom März 2003 weist Anz[3] aber darauf hin, dass in der Person von Heinroth uns auch die Doppelgesichtigkeit der Medizin des 19. Jahrhunderts entgegentritt:

Einer der Lieblingsgegner der Somatiker war Christian Heinroth, der bedeutendste Repräsentant der Psychiatrie in den zehner und zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts. So deutlich wie an keinem anderen Vorläufer der Psychosomatik lässt sich an ihm das vielfach prekäre Doppelgesicht einer Medizin zeigen, die mit dem Anspruch auftritt, auf den kranken Menschen in allen seinen Dimensionen einzugehen. Für Heinroth kann uns noch heute sein Versuch einnehmen, jedes Krankheitsgeschehen in seinen psychischen wie somatischen und lebensgeschichtlichen Gesamtzusammenhängen zu verstehen. "Wir sind nicht aufmerksam genug auf den ganzen Lebensgang seelengestörter Individuen", schrieb er, "wir würden sonst finden, daß Melancholie, Wahnsinn, Manie usw. stets Resultat des Gesammtlebens sind". Doch eben dieser Arzt ist zugleich ein Beispiel dafür, dass dieser ganzheitliche Blick anfällig dafür ist, Medizin zum Instrument der Durchsetzung bestimmter moralischer Vorstellungen zu machen. Heinroth hatte mit geradezu missionarischem Eifer die moralistische Deutung psychischer Krankheiten auf die Spitze getrieben. Jede "Seelenstörung" beschrieb er als Abfall von Gott und der "heiligen Vernunft", als das Böse und Teuflische schlechthin.

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[1] s. a. Ackerknecht EH: Die kurze Geschichte der Psychiatrie. Enke, Stuttgart, 3. Aufl., 1985, S. 60

[2] Heinroth JCh: Lehrbuch der Störungen des Seelenlebens oder der Seelenstörungen und ihre Behandlung - Vom rationalen Standpunkt aus entworfen, Teil II; Leipzig, 1818

[3] http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=5898&ausgabe=200303
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Inhaltsverzeichnis (zum Navigieren bitte auf den Titel klicken)

1. Zur „Frühgeschichte“ der Psychosomatischen Medizin

2. Das Leib-Seele-Problem im Spiegel des Rationalismus

3. Psychismus und Somatismus – zwei Medizin-Richtungen im 19. Jahrhundert

4. S. Freuds Entdeckung des ersten psychosomatischen Modells

5. Erweiterungen und Folgemodelle des Konversionskonzeptes

6. Das Problem der Spezifität beim Zusammenwirken seelischer und
körperlicher Faktoren

7. Die zweiphasige Verdrängung bei Alexander Mitscherlich

8. Pensée operatoire und Alexithymie

9. Psychosomatik im Zeichen der Neurobiologie – der Blick in die Zukunft