Die zweiphasige Verdrängung bei Alexander Mitscherlich

Alexander Mitscherlich knüpfte mit seiner Theorie der „zweiphasigen Verdrängung“ direkt und ausdrücklich an Schur an. Beide gingen – anders als Franz Alexander – nicht von einer allgemein gültigen (interindividuellen) Spezifität aus, sondern erklärten psychosomatische Reaktionen und Krankheiten auf der Basis von Anlagen, die im Rahmen bestimmter seelischer Belastungen – insbesondere Traumatisierungen – benutzt werden. Das heißt, dass sie von einer nicht verallgemeinerbaren, intraindividuellen Spezifität ausgingen. Mitscherlich beschreibt nun eine erste Phase, in der das bedrängte Ich versucht, innere oder zwischenmenschliche Konflikte auf seelischem Wege unbewusst zu machen (Verdrängung). Aufgrund einer vorliegenden Ich-Schwäche (strukturell oder funktionell) gelingt dies nicht und das Ich versucht – in der zweiten Phase - einen Rückgriff auf frühere, somatische Ausdrucksformen für anders nicht kanalisierbare Affekte.

Unter ausdrücklichem Rückgriff auf Schur schrieb Mitscherlich[1]:

„Mit einem Begriff Max Schurs (1974) zu sprechen- »Desomatisierungsvorgänge« (Zurückdrängung körperlicher Korrelate emotioneller Erregung) können durch traumatisch wirksame Erlebnisse eine definitive Behinderung erfahren. Oder es kann schon bei geringer Belastung ein Rückgriff auf die charakteristischen körperlichen Affektkorrelate der frühen Kindheit erfolgen, vor allem den Angstaffekt und seine Ausdrucksformen. Die Kraft zur Neutralisierung von Energie ist im Ich dann geschwächt. Mit dieser Bemerkung spielen wir auf die Theorie von Heinz Hartmann (1964/65) an, es müsse dem Ich gelingen, Triebenergie von ihren ursprünglichen Zielen abzuziehen, zu »neutralisieren« und sich selbst zunutze zu machen, ohne daß dabei aufwendige Konflikte mit Es und Über-Ich entstehen. Nur so könne es sich mit eigenen Zielen gegen die ältere Organisationsform der Triebe, das Es, zur Geltung bringen; unter Umständen auch gegen die innere Präsenz der gesellschaftlichen Normen des Verhaltens, gegen das Über-Ich.

Dabei ist zu bedenken, daß im Akt der Regression niemals das ursprüngliche, infantile psychosomatische Gesamtmilieu wieder erreicht werden kann. Ontogenetische Reifungsschritte können nicht beliebig zurückgenommen werden. Die Reaktionsformen, die für das erste, zweite oder dritte Lebensjahr psychosomatisch charakteristisch und adäquat waren, sind nicht mehr verfügbar. Doch der unbewältigbare affektive Druck, die psychische Erregtheit des Individuums, sucht nach solchen vom Ich nur schwach gebremsten somatischen Ausdruckskorrelaten. Es ist unsere Vermutung, daß die in der Phantasie erstrebte Rückkehr zu bestimmten infantilen Befriedigungsformen oder Abwehrleistungen deshalb krank macht, weil dem Organismus die regressive Anpassung, wie sie hier gefordert wird, nicht mehr möglich ist: Es ist ihm unmöglich, das biologisch infantile Korrelat der Emotion zustande zu bringen. Der Kompromiß zwischen den realen Möglichkeiten des Organismus und einem stürmischen, auf die Außenwelt keine Rücksicht nehmenden Verlangen nach Abhilfe - sei es eines auf Befriedigung pochenden Triebwunsches, sei es starker Angsteinwirkung - vollzieht sich dann in der pathologischen Leistungsveränderung. Das ist freilich nur ein Aspekt der Kompromißbildung; ein anderer liegt in den viel stärkeren aggressiven und libidinösen Möglichkeiten des erwachsenen Individuums und deren autoplastischen Auswirkungen. So wie das reife Individuum libidinös und aggressiv sielt viel nachhaltiger zur Geltung bringen kann als das Kind, so vermögen auch die pathologischen autoplastischen Einwirkungen der Aggression schwere, chronische und unter Umständen tödliche Folgen herbeizuführen.
________________________________________________________

[1] Mitscherlich A: Bedingungen der Chronifizierung psychosomatischer Krankheiten Die zweiphasige Abwehr In: Brede Karola (Hg): Einfürhung in die psychosomatische Medizin. Syndikat, Frankfurt/M. 1980, S. 396-406
________________________________________________________

Inhaltsverzeichnis (zum Navigieren bitte auf den Titel klicken)

1. Zur „Frühgeschichte“ der Psychosomatischen Medizin

2. Das Leib-Seele-Problem im Spiegel des Rationalismus

3. Psychismus und Somatismus – zwei Medizin-Richtungen im 19. Jahrhundert

4. S. Freuds Entdeckung des ersten psychosomatischen Modells

5. Erweiterungen und Folgemodelle des Konversionskonzeptes

6. Das Problem der Spezifität beim Zusammenwirken seelischer und 
körperlicher Faktoren

7. Die zweiphasige Verdrängung bei Alexander Mitscherlich

8. Pensée operatoire und Alexithymie

9. Psychosomatik im Zeichen der Neurobiologie – der Blick in die Zukunft