Das Problem der Spezifität beim Zusammenwirken seelischer und körperlicher Faktoren

Ein Kontrahent W. Reichs in der psychoanalytischen Community war Franz Alexander. Reich warf Alexander ein Zitat vor, in dem dieser das Strafbedürfnis als Kernstück bzw. das Spezifikum der Neurose bezeichnet hatte[1]. Alexander rechtfertigte sich dahingehend, dass er nicht habe behaupten wollen, dass triebhemmende Überich-Aktivitäten das Primäre der Neurose seien; er bezog sich auf Freuds Schrift „Das Ich und das Es“ und leitete die Triebhemmung aus der Angst des Ichs vor dem Überich her – als Folge der Kastrationsangst[2].
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[1] Reich, W. (1928). I a Criticism of Recent Theories of the Problem of Neurosis.  Int. J. Psycho-Anal., 9:227-240

[2] Alexander, F. (1928).  II a Reply to Reich's Criticism.  Int. J. Psycho-Anal., 9:240-246
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Für die Psychosomatik waren allerdings die Spezifitätsannahmen Alexanders wichtiger. Seiner Theorie zufolge[1]variieren die physiologischen Reaktionen auf emotionale Reize sowohl im Normalen wie auch im Kranken in Abhängigkeit von der Art des auslösenden emotionalen Zustandes. Lachen ist eine Reaktion auf Heiterkeit, Weinen auf Kummer, Seufzen drückt Erleichterung oder Verzweiflung und Erröten Verlegenheit aus. Die vegetativen Reaktionen auf unterschiedene emotionale Reize variieren ebenso entsprechend der Qualität der Emotionen. Jeder emotionale Zustand hat sein eigenes physiologisches Syndrom. Blutdrucksteigerung und beschleunigte Herztätigkeit sind ein regelmäßiger Bestandteil von Wut und Furcht. Erhöhte Magensaftsekretion kann eine regressive Reaktion auf eine Not- oder Gefährdungssituation sein. Asthmaanfälle sind mit einer unbewußten unterdrückten Regung, nach der helfenden Mutter zu schreien, korreliert.“

Alexander postulierte also eine Konfliktspezifität, die zu bestimmten vegetativen Reaktionen und - bei entsprechender Disposition (sog. konstitutioneller Faktor X) - zu bestimmten Krankheiten führte. Dabei widmete er der jeweils vorherrschenden sympathischen bzw. parasympathischen Innervation besondere Aufmerksamkeit. Auf diese Weise gelang es Alexander, theoretisch Anschluss an die Psychophysiologie seiner Zeit zu gewinnen. Die von ihm systematisch beforschten sieben Krankheitsbilder – später als „Holy Seven“ bezeichnet – waren: Ulcus duodeni, Colitis ulcerosa, Asthma bronchiale, essentielle Hypertonie, Neurodermitis, rheumatoide Arthritis und Thyreotoxikose.

Die Annahme Alexanders, dass jede emotionale Spannung ihr spezifisches physiologisches Syndrom haben soll, ließ aber nach seiner Ansicht die Frage nach der Ätiologie – d. h. die Frage nach Art und Weise des Zusammenwirkens seelischer und konstitutioneller Faktoren, die das organische Geschehen beeinflussen, weiter offen.

[1] Alexander F: Psychosomatic Medicine. 1950; dt.: Psychosomatische Medizin – Grundlagen und Anwendungsgebiete. 3. unveränd. Aufl., de Gruyter, Berlin, 1977, S. 44

Die Fortschritte in der psychosomatischen Forschung haben die Spezifitätshypothese Alexanders in der von ihm behaupteten Generalisierung nicht bestätigen können, wenngleich immer wieder für relevante Subgruppen von Patienten die Zuschreibungen Alexanders zutreffen. Allgemein kann man folgendes Ergebnis dieser wissenschaftlichen Auseinandersetzung festhalten:

Es gibt – außer bei der Konversion (= körpersprachlich symbolisierter Trieb-Abwehr-Konflikt) – keine interindividuelle Spezifität, sondern (nur) eine intraindividuelle Spezifität. Diese Annahme wird durch die neueren Einsichten der Embodiment-Forschung im Prinzip auch bestätigt.

Dies trifft aber genauso für andere psychosomatische Spezifitätsannahmen zu, wie etwa der von Schultz-Hencke[1]. Die Untersuchungsergebnisse und Hypothesen Alexanders haben die weitere psychosomatische Forschung enorm stimuliert – z. B. die Frage, welche Symptomkonstellationen auf bestimmte Charakterzüge und welche auf situative Zustände zurückzuführen sind („state oder trait“).

Nach Ansicht von v. Rad[2] (S. 152) nahmen Engels und Schmale[3] eine Erweiterung des Alexander’schen Spezifitäts-Modells vor: Am Beispiel etwa der Hauterscheinungen bei der Neurodermitis vertreten sie ihre These, daß der Zeitpunkt und Ort der Läsion, jedoch nicht die Läsion selbst die Kriterien einer Konversion voll erfüllen (Engel, Schmale 1967, 242). Es ist für das Konversionskonzept der Autoren wichtig, daß sie scharf zwischen dem Akt der Konversion und den sekundären Folgeerscheinungen unterscheiden. … Im Rahmen etwa objektgerichteter Aktivitäten … können die beteiligten physiologischen wie pathophysiologischen Prozesse sehr wohl auch eine seelische Repräsentanz erlangen.

[1] Schultz-Hencke H: Lehrbuch der analytischen Psychotherapie. Thieme, Stuttgart, 1951, S. 135

[1] v. Rad M (1979): Weiterentwicklung psychoanalytischer Modelle. In: Hahn P (Hg.): Kindlers Psychologie des 20. Jahrhunderts. Psychosomatik, Bd. 1. Beltz, Weinheim, 1983, S. 149-155

[1] Engel GL, Schmale AH (1967): Psychoanalytic theory of somatic disorders. J. Am. Psychoanal. Ass. 15:344-365; dt.: Engel GL, Schmale AH (1969): Eine psychoanalytische Theorie der somatischen Störung. Psyche 23:241-261

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Max Schur – für viele Jahre Freuds Leibarzt bis zu dessen Tod – musste wie fast alle o. g. Psychoanalytiker vor den Nationalsozialisten in Österreich und Deutschland flüchten. Nach Freuds Tod (1939) übersiedelte er von London nach New York. Wie Felix Deutsch, so war auch Schur Internist. Er veröffentlichte zunächst zahlreiche internistische Arbeiten (über Anämie, Magensekretion, Perikarditis und über Syphilis).

Seine psychoanalytischen Forschungen an Neurodermitis-Patienten inspirierten ihn zu sehr grundlegenden und noch heute gültigen, ich-psychologisch akzentuierten Konstrukten, die er in seiner bekannten Publikation Comments on the Metapsychology of Somatization (1955) dargelegt hat[1]. Unter Bezugnahme auf Freuds Werk Hemmung, Symptom und Angst (1926) und verschiedene Arbeiten von Kris und von Hartmann formulierte er eine Theorie der allgemeinen psychoanalytischen Psychosomatik.

Demnach sind körperliche und seelische Prozesse in den ersten Lebenswochen weitgehend primärprozesshaft und unkoordiniert. Damit verbunden ist auch, dass Libido, Aggression und Angst in erster Linie körperliche Reaktionen hervorrufen. Mit zunehmender Reifung des Ichs wird der Sekundärprozess wichtiger: Lust, Ärger und Angst können nun zunehmend in ihrer seelischen Qualität erlebt und ausgedrückt werden; das ist die Voraussetzung für jenen Vorgang, den Schur Desomatisierung nennt. Je stärker bzw. reifer das Ich ist, je besser die Ich-Funktionen koordiniert und reguliert werden können, desto besser gelingt die Desomatisierung und desto weniger ist es notwendig, auf primärprozesshafte und körperliche Ausdrucksformen seelischer Phänomene zurückzugreifen. Im Sekundärprozess ist das Ich in hohem Maße in der Lage, Libido und Aggression zu neutralisieren und Angst seelisch zu repräsentieren. Gleichzeitig ist im Gefolge des Sekundärprozesses die Fähigkeit zu fühlen und zu denken hoch entwickelt. Schurs Theorie erklärt andrerseits aber auch, dass es bei einer funktionellen bzw. situativen oder auch bei einer strukturellen Ich-Schwäche zu jenem Prozess kommen kann, den Schur Resomatisierung nennt: Dabei wird dann erneut in für das fortgeschrittene Lebensalter unangemessener Weise auf frühe, primärprozesshafte Ausdrucksformen seelischer Phänomene zurückgegriffen und es kommt zu psychosomatischen Krankheiten.

[1] Schur, M. (1955).  Comments on the Metapsychology of Somatization.  Psychoanal. Study Child, 10:119-164

Die hier angesprochene Form der Regression wurde von Le Shan[1] in Analogie für die psychosomatische Krebsforschung konzeptualisiert: Er unterstellte die Möglichkeit, dass regressive Prozesse schwerpunktmäßig auf seelischer oder auf psychischer Ebene stattfinden könnten. Demnach würde eine maximale Regression psychisch zu einer Psychose führen können, wohingegen die Angstabwehr eines extrem schwachen oder geschwächten Ichs zu einer Regression auf somatischer Ebene erfolgen und im schlimmsten Fall zur Entwicklung einer Krebserkrankung beitragen könnte (Hypothese über sog. Isomorphismus zwischen Psychose und Krebserkrankung). Diese Hypothese fand jedoch durch die psychosomatische Forschung keine Bestätigung.

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[1] Le Shan, L (1977): You can fight for your life. Dt.: Psychotherapie gegen den Krebs. Klett-Cotta, Stuttgart 1982
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Inhaltsverzeichnis (zum Navigieren bitte auf den Titel klicken)

1. Zur „Frühgeschichte“ der Psychosomatischen Medizin
2. Das Leib-Seele-Problem im Spiegel des Rationalismus
3. Psychismus und Somatismus – zwei Medizin-Richtungen im 19. Jahrhundert
4. S. Freuds Entdeckung des ersten psychosomatischen Modells
5. Erweiterungen und Folgemodelle des Konversionskonzeptes
6. Das Problem der Spezifität beim Zusammenwirken seelischer und 
körperlicher Faktoren
7. Die zweiphasige Verdrängung bei Alexander Mitscherlich
8. Pensée operatoire und Alexithymie
9. Psychosomatik im Zeichen der Neurobiologie – der Blick in die Zukunft