Erweiterungen und Folgemodelle des Konversionskonzeptes
Während Konversionssymptome vor allem im Bereich der Sinnesorgane und der willkürlich innervierten Muskulatur auftraten und dort pseudoneurologische Erscheinungen hervorriefen (Lähmungen, Gangstörungen, Anfälle, Sensibilitätsstörungen etc.), machte die Einschätzung psychogener Störungen der inneren Organe größere Schwierigkeiten. Insbesondere konnte hier sehr oft kein klassischer, intrapsychischer Triebabwehr-Konflikt und seine Symbolisierung nachgewiesen werden.
Fenichel arbeitete dann einen entscheidenden Unterschied bei psychogenen Körpersymptomen heraus: Er konnte darstellen, dass bestimmte vegetative Phänomene keineswegs symbolisierter Ausdruck einer bestimmten (ödipalen) Konfliktpathologie waren, sondern diffuses Affektäquivalent. Letzteres hatte sehr oft seinen Ursprung in frühen, präödipalen Entwicklungsstadien. Verdeutlicht wurde das von Fenichel u. a. am Beispiel des nächtlichen Einnässens (enuresis): Demnach ist z.B. die autoerotische Harnausscheidung prägenital, wenn sie unbewusst das Ziel des wärmenden Hautkontaktes hat; sie ist genital bzw. ödipal, wenn sie als Masturbationsäquivalent verstanden werden kann.
Obwohl Freud die Psychoanalytiker am liebsten von psychosomatischen Fragestellungen fern gehalten hätte, befassten sich doch mehrere seiner Schüler intensiv damit. So geht der Begriff Organneurose auf Sandor Ferenci (1873-1933) zurück und wurde von Felix Deutsch weiter ausgearbeitet.
Der hatte sich an der Universität Wien in Innerer Medizin habilitiert, wo er auch 1919 die erste Klinik für Organneurosen errichtete. Sein wissenschaftliches Arbeiten galt zunächst den Herzkrankheiten, der Sportmedizin und der Biopsychologie. Er gab 1939 folgende Definition für den Begriff der Organneurose[1]:
„Eine Organneurose ist der notwendige Ausdruck eines neurotischen Konfliktes in Form einer Organstörung, die auf bestimmte Weise charakterisiert ist. Die Wahl des Organs wird dadurch determiniert, dass es noch vor dem Abschluss der Triebentwicklung in Mitleidenschaft gezogen wurde. Die seinerzeit automatische Antwort auf die organische Funktionsstörung schaffte eine psychosomatische Einheit: Es entstand eine aktives oder ein latentes Zusammenwirken von - und eine Wechselwirkung zwischen - einem prädestinierten Organ und einem psychischen Konflikt. Dieses psychosomatische Wechselspiel wird dann später bei gewissen somatischen oder emotionalen Zuständen als die pathologische Lösung eines psychischen Konfliktes benutzt und führt zu einem festgelegten Symptomenkomplex. Wird der alte bzw. latente psychische Konflikt reaktiviert, so werden gleichzeitig in dem Organ, das ursprünglich mit dem Konflikt verbunden war, bestimmte Symptome erzeugt. … So wird eine bestimmte Phase eines emotionalen Komplexes in spezifischer Weise ursächlich und notwendig mit einer organischen Dysfunktion verknüpft.“ (S. 252, Übersetzung W. Köpp.)
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[1] Deutsch, F. (1939). The Choice of Organ in Organ Neuroses. Int. J. Psycho-Anal., 20:252-262
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Paul Schilder – in Deutschland und Österreich erstaunlich wenig rezipiert – wurde als Psychiater in den USA hochgeachtet und hatte wesentlich Anteil daran, dass die Psychoanalyse in Nordamerika zwischen 1930 und 1960 großen Einfluss innerhalb der psychiatrischen Fachwelt entfalten konnte. Schon in den 20er Jahren konfrontierte er psychoanalytische Konstrukte mit den lerntheoretisch fundierten Reflexbefunden und Konditionierungsexperimenten des russischen Nobelpreisträgers Pavlov. Er griff Pavlov an, weil dieser mit seinen Konditionierungsversuchen behauptete, bei Hunden eine experimentelle Neurose erzeugen zu können. Schilder kritisierte Pavlovs Konzeptualisierung der konditionierten Reflexe als reduktionistisch und hielt ihm entgegen, dass es besser gewesen wäre, subjektive Erlebnisberichte konditionierter Menschen als objektive Beobachtungen an konditionierten Hunden auszuwerten.
International beachtet wurde vor allem Schilders Buch The image and the appearance of the human body, das 1935 in London und 1950 in New York erschien. Darin nimmt er eine sehr wichtige Begriffsklärung vor: Er unterschied zwischen Körperschema und Körperbild. Beide Konstrukte wurden im Laufe der Zeit weiter ausgearbeitet. Das Körperschema ist die gefühlssichere Vorstellung von Körpergrenzen und Größenrelationen der Körperteile zueinander und zur Umgebung, die sichere Vorstellung vom Organismus als physikalischem Körper. Das Körperschema ist bei allen Vertretern der Gattung Mensch ähnlich. Bei z. B. körperhalluzinatorischen Zuständen kann es durch Fragmentierungserleben gestört sein. Das Körperbild ist hingegen Ausdruck der subjektiven Geschichte und der Beziehungserfahrungen des einzelnen Menschen im Hinblick auf seine Körperlichkeit; aus heutiger Sicht kann es zum Teil als Aspekt des Selbst verstanden werden, insofern es das Selbstwerterleben betrifft und die Konfrontation der eigenen, bewertenden Selbstwahrnehmung mit persönlichen und gesellschaftlichen Wertvorstellungen und Normen.
Wilhelm Reich, der in den 20er Jahren an der Wagner-Jauregg-Klinik unter Schilder arbeitete, verfolgte einen anderen psychosomatischen Strang der Psychoanalyse: Ausgehend von Freuds früher Libidotheorie nahm Reich den Freud’schen Energiebegriff physikalisch wörtlich. Freuds frühe Vorstellung der Libido (als Energieform des Sexualtriebs) war noch sehr an die Physiologie angelehnt und beinhaltete einen quantitativen Gesichtspunkt, der als energetisch-ökonomisches Prinzip angesehen werden kann, der aber in der Geschichte der Psychoanalyse immer weiter in den Hintergrund geriet.
In seinen ersten Büchern „Der triebhafte Charakter“ (1925) und „Die Funktion des Orgasmus“ (1927) beschrieb Reich auf der Basis sorgfältiger klinischer Beobachtungen Erregungsabläufe und Erlebnisweisen bei gehemmter und bei gesunder Sexualität. Boadella[1] ist der Ansicht, dass Reichs hartnäckiges Festhalten an der Libido- bzw. an der Triebtheorie der Grund war, der Reich wissenschaftlich von der psychoanalytischen Bewegung trennte. So habe Reich eine Sexualökonomie auf der Basis der psychoanalytischen Triebtheorie entwickelt, während (zwischen 1920 und 1950) sich der psychoanalytische mainstream von der Triebpsychologie ab- und der Ich-Psychologie zugewandt habe.
Für die Psychosomatik war neben der Beschreibung des sexuellen Erlebens die Beobachtung Reichs wichtig, dass seelische Panzerungen (Charakterpanzer) sich auch körperlich manifestierten – z. B. muskulär („Musekelpanzer“). Darauf beziehen sich auch heute noch mehrere körperpsychotherapeutische Verfahren. Nach der Emigration in die USA beeinflusste Reich vor allem Psychotherapeuten wie Ronald D. Laing, Alexander Lowen und Fritz Perls.
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[1] Boadella D: Wilhelm Reich – Leben und Werk eines Mannes, der in der Sexualität das Problem der modernen Gesellschaft erkannte und der Psychologie neue Wege wies. Fischer, Frankfurt/M. 1983, S.16 _________________________________________________________
Inhaltsverzeichnis (zum Navigieren bitte auf den Titel klicken)
1. Zur „Frühgeschichte“ der Psychosomatischen Medizin
2. Das Leib-Seele-Problem im Spiegel des Rationalismus
3. Psychismus und Somatismus – zwei Medizin-Richtungen im 19. Jahrhundert
4. S. Freuds Entdeckung des ersten psychosomatischen Modells
5. Erweiterungen und Folgemodelle des Konversionskonzeptes
6. Das Problem der Spezifität beim Zusammenwirken seelischer und
körperlicher Faktoren
7. Die zweiphasige Verdrängung bei Alexander Mitscherlich
8. Pensée operatoire und Alexithymie
9. Psychosomatik im Zeichen der Neurobiologie – der Blick in die Zukunft