Pensée operatoire und Alexithymie

Die bisherigen psychoanalytischen Vorstellungen über psychosomatische Phänomene waren mehr oder weniger von der Idee geprägt, dass unbewusste intrapsychische Konflikte – ähnlich wie bei der Konversionsneurose – sich in körperlichen Symptomen niederschlagen bzw. „verdinglichen“ könnten. Mit Schur und Mitscherlich tauchten dann zunehmend ich-strukturelle Aspekte in der psychoanalytischen Psychosomatik auf.

Auf dem 20. Kongress der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung 1957 in Paris berichtete der französische Psychoanalytiker Pierre Marty[1] erstmals von seinen Beobachtungen, die er an allergischen Patienten gemacht hatte. Er beschrieb normorientierte, sozial gut angepasste Patienten, die dadurch gekennzeichnet waren, dass sie kaum oder gar nicht neurotische Symptome zeigten. Dagegen fiel auf, dass sie weitgehend unfähig zum Fantasieren und Symbolisieren waren. Sie antworteten mechanistisch auf Fragen und wirkten distanziert und unpersönlich. Ihre Schilderungen wirkten konkretistisch und ohne Affekt vorgetragen. Solche Beziehungen werden vom Analytiker dann oft als „relation blanche“ – als leere Beziehung – erlebt, während der Patient den Analytiker ganz funktionalistisch wahrnimmt. Hier ein Beispiel einer solchen Kommunikation:

Patient: Heute hatte ich das Gefühl, dass es länger gedauert hat, bis Sie mir die Tür öffneten. Ich dachte schon, es könnte Ihnen etwas passiert sein und Sie könnten gestorben sein.

Therapeut: Wie wäre das wohl für Sie gewesen?

Patient: Na ja, es wäre schon schade gewesen, denn ich hätte mir dann einen neuen Therapeuten suchen müssen!

Stephanos und Auhagen (1979/1983)[2] verstanden die pensée operatoire als archaisch und primärprozesshaft; sie übersetzten es mit „automatistisches-mechanistisches Denken“. Sie fassten auch die relevanten klinischen Befunde noch einmal zusammen:

  1. Reduplikation: Die Tendenz, Objekte nach dem eigenen unstrukturierten Selbstbild wahrzunehmen; Beispiel: „Sie haben schwarzes Haar wie mein Mann: Leute mit schwarzem Haar haben mich noch nie enttäuscht.“ (Stephanos u. Auhagen S. 159)
  2. Unfähigkeit zu fantasieren und zu träumen – bzw. fallen Träume sehr konkretistisch und als wenig fantasievoll auf. Typische Ich-Leistungen wie Verschiebung oder Verdrängung tauchen kaum auf.
  3. Störungen des Körperschemas, die auf defekte Ich-Funktionen bzw. –Strukturen zurückgehen: Störungen der Lateralität, Orientierung in Zeit und Raum, binokuläres Sehen. Eine „dritte Dimension“ gibt es nicht im Erleben der Betroffenen, ihre Zeichnungen bleiben zweidimensional und geometrisch.

Die US-amerikanischen Psychiater Nemiah und Sifneos (1970, zit. n. Stephanos u. Auhagen) fanden dafür den treffenden Begriff Alexithymie („a“ = Mangel, „lexis“ = Wort, „thymos“ = Gefühl). Gemäß Marty (1976) beschrieben Stephanos und Auhagen nosologisch vier Kategorien, die sie auch in einer hypothetischen Grafik zusammenfassten:

______________________________________________________________

[1] Marty P (1958): La relation objectale allergique. Rev. Franç. Psych. 22, 5-33, sowie : Marty P (1958): The Allergic Object Relationship. Int. J. Psycho-Anal., 39: 98-103

[2] Stephanos S, Auhagen U (1979): Objektpsychologisches Modell auf der Basis der Französischen psychoanalytisch-psychosomatischen Konzepte. In: Hahn P (Hg.): Kindlers Psychologie des 20. Jahrhunderts. Psychosomatik, Bd. 1. Beltz, Weinheim, 1983, S. 156-175
________________________________________________________

Modell
_________________________________________________________

Inhaltsverzeichnis (zum Navigieren bitte auf den Titel klicken)

1. Zur „Frühgeschichte“ der Psychosomatischen Medizin

2. Das Leib-Seele-Problem im Spiegel des Rationalismus

3. Psychismus und Somatismus – zwei Medizin-Richtungen im 19. Jahrhundert

4. S. Freuds Entdeckung des ersten psychosomatischen Modells

5. Erweiterungen und Folgemodelle des Konversionskonzeptes

6. Das Problem der Spezifität beim Zusammenwirken seelischer und 
körperlicher Faktoren

7. Die zweiphasige Verdrängung bei Alexander Mitscherlich

8. Pensée operatoire und Alexithymie

9. Psychosomatik im Zeichen der Neurobiologie – der Blick in die Zukunft